Eines Morgens, als Greg sich bereits damit abgefunden hatte, die Schule nie mehr wieder zu sehen, hatte Mom ihm den Rucksack gepackt und an der Straße mit ihm gewartet, bis der gelbe Bus um die Ecke bog und vor ihrem Haus hielt. Es war ein Spezial-Bus, der von vorne aussah, wie all die anderen Schulbusse, aber nur halb so lang war. Ein Spezial-Bus für einen speziellen Jungen, hatte Mom gesagt.
Der Gong riss Greg aus seinen Gedanken. Er klappte sein Heft zu. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er seine beiden Freunde wieder sah. Vor lauter Vorfreude machte er sich ein wenig in die Hose.
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"Wird auch Zeit", schallte es Paul entgegen. Mark trug eines seiner geliebten NASCAR-Shirts, grellfarbig bedruckt mit dem Steilkurvenduell zweier Rennwagen. Darunter wölbte sich ein ansehnlicher Bauch, der die Autos verzerrte, als betrachte man sie durch ein Vergrößerungsglas.
Mit jedem Jahr schien dieser Bauch um einige Zentimeter im Umfang zu wachsen. Noch keine Achtzehn, und Pauls einst drahtiger Spielkamerad fing an, sich in seinen Vater zu verwandeln. Der Begriff "dickster Freund" bekam plötzlich eine völlig neue Bedeutung.
Und dickste Freunde waren sie, seit Paul denken konnte. Mehr als das, Mark war so etwas wie ein Bruderersatz. Ihr kollektives Gedächtnis reichte so weit zurück, dass Paul sich nicht erinnern konnte, ihn nicht gekannt zu haben.
Vergilbte Fotos zeigten Baby Paul und Baby Mark in derselben Krabbelgruppe. Später tauschten sie im Sandkasten Förmchen, noch etwas später lernten sie gemeinsam Alphabet und Grundrechenarten. Marks Familie wohnte direkt nebenan, was es leichter machte, sich nachts mit Taschenlampe und Dosentelefon zu illegalen Erkundungen der Nachbarschaft zu verabreden.
Mark Senior war ein begnadeter Mechaniker. Irgendwann schmiss er seinen Job hin und wagte den Sprung in die Selbständigkeit. Er eröffnete seine eigene Werkstatt, die er - etwas einfallslos - Mark's Auto Repair nannte. Der Laden lief gut. Zu gut, für Pauls Geschmack, denn das erfolgreiche Geschäft bedeutete das Ende der Nachbarschaft. Marks Familie zog in eine andere Straße, in ein komfortableres Haus. Glücklicherweise lag es nur eine viertelstündige Fahrradfahrt entfernt, so dass die Freundschaft keinen Schaden nahm.
Ein Jahr verging, dann trennten sich Marks Eltern. Für Mark begann ein tränenreicher Lebensabschnitt, an dessen Ende er bei seinem Vater und das Haus bei seiner Mutter blieb, die es kurze Zeit später verkaufte um mit ihrem neuen Partner irgendwo in Kanada zu leben. Ihre Briefe an Mark wurden kürzer und weniger, bis der Kontakt vollständig versickerte. Das letzte Lebenszeichen war eine Postkarte aus Anchorage. Mark Junior und Senior lebten fortan in den Räumen über der Werkstatt, die Senior zu zwei Wohnungen ausbaute.
Schwere Pranken fielen auf Pauls Schultern. Mark rüttelte an seinem Oberkörper, als wolle er ihn aus der Bewusstlosigkeit wecken.
"Seniors! Der Anfang vom Ende, Alter! Noch ein Jahr, und wir haben diesen ganzen Scheiß hinter uns."
Mark machte eine ausschweifende Handbewegung, die den Umfang von "diesen ganzen Scheiß" verdeutlichen sollte. Dann bemerkte er das Skateboard. Seine Unterlippe schob sich vor und verlieh ihm das Aussehen eines verdutzten Karpfens.
"Was willst du damit?" Mark nickte dem Board zu. "Du kannst doch gar nicht skaten."
"Vielleicht habe ich es ja den Sommer über gelernt."
"Sicher", lachte Mark, als gäbe es nichts Unwahrscheinlicheres als Paul auf einem Skateboard. "Demnächst kommst du dann wieder auf dem BMX-Rad zur Schule?"
Paul überhörte Marks Ironie und drehte das Zahlenschloss an seinem Spind. Ganz automatisch erinnerten sich seine Finger an die Kombination, ein über die Jahre eingeprägter Reflex.
Der Anfang vom Ende.
Mark hatte recht. In einem Jahr würde es keinen Spind mehr geben. In einem Jahr würden seine Finger anfangen, die Zahlenkombination zu verlernen, weil er sie nie wieder brauchen würde. In einem Schuljahr. Zehn Monate. Und dann? Er verstaute Rucksack und Skateboard und schlug die Spindtür zu.
"Ich muss los. Wir sehen uns." Mark schlug ihm auf den Rücken und schlurfte ohne Eile der ersten Unterrichtsstunde entgegen.
Das Chemiebuch unterm Arm lief Paul in die entgegengesetzte Richtung zum Labor. Die neue Lehrerin war gerade dabei, ihren Namen an die Tafel zu schreiben. Schalgi oder Shalge, Paul konnte die zittrige Handschrift nicht entziffern. Bevor sie sich umdrehte, rutschte er auf den einzigen freien Platz. Dabei stieß er sein Knie schmerzhaft gegen den Stuhl vor ihm. Sein Vordermann richtete sich auf, drehte sich in Zeitlupe zu Paul um und musterte ihn.
Paul erstarrte. Brian "Wolf" Wilson. Ausgerechnet.
Jeder in der Schule wusste, dass Brian Wilson (offenbar waren seine Eltern Fans der Beach Boys) von allen Schülern derjenige war, gegen dessen Stuhl man besser nicht stieß. In ihm waren Skrupellosigkeit und Kleiderschrankstatur eine instabile Verbindung eingegangen. Es gab Gerüchte, dass selbst einige Lehrer bereits unangenehme Bekanntschaft mit Brian gemacht hatten – besonders dann, wenn er nicht die Zensuren bekam, die er erwartete. In jedem Fall war es ratsam, nicht auf seiner schwarzen Liste zu landen.
Brians Augen verengten sich zu zwei bedrohlichen Schlitzen.
"Tut mir leid, Mann", krächzte Paul. Instinktiv wich er so weit zurück wie sein Sitzplatz es zuließ, darauf gefasst, jeden Moment die Ergebnisse von Brians täglichem Krafttraining am eigenen Körper zu spüren. Eine Ewigkeit geschah nichts. Dann drehte sich Brian wieder zurück.
Manchmal war es von Vorteil, unsichtbar zu sein.
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Auch wenn der Coach eine Million Mal versucht hatte, es ihm zu erklären - was Chemie mit Football zu tun hatte, blieb Brian ein Rätsel.
"Willst du das Slayton-Stipendium?" Das Gesicht des Coachs war so nahe an Brians, dass sich ihre Nasen fast berührten.
"Logisch."
Der Coach verpasste ihm eine Ohrfeige. "Willst du es wirklich?"
Natürlich war der Coach der einzige, der sich dergleichen erlauben durfte ohne danach seine Knochen einzusammeln. Brian respektierte ihn, wie er niemanden sonst respektierte, denn der Coach verstand das Spiel.
"Ja."
"Ein Wolf bekommt immer, was er verdient. Sprich es mir nach!"
"Ein Wolf bekommt immer, was er verdient."
"Und verdienst du es?"
"Verdammte Scheiße, ja!", schrie Brian.
Der Coach trat einen Schritt zurück und senkte seine Stimme auf Zimmerlautstärke.
"Dann reiß dich zusammen. Denn ohne Chemie wird das nichts. Ein Vollstipendium fällt einem nicht in den Schoß. Schon gar nicht in Slayton. Oder willst du in irgendeinem Loserteam dein Talent vergeuden?"
Natürlich wollte Brian das nicht. Er wollte nach der High School in das beste Team von allen, und das spielte nun mal für die Slayton University.
Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Den SAT, den Standard-Aufnahmetest der Universitäten, hatte er gründlich vergeigt. Jetzt wurde die Luft dünn, denn Slayton verlangte auch von seinen zukünftigen Footballstars zumindest durchschnittliche Noten in mindestens einer Naturwissenschaft. Den Sinn dahinter verstand Brian so wenig wie Chemie selbst.
Atome, Moleküle, organische und anorganische Verbindungen – das war definitiv nicht seine Welt. Seine Welt war das Spielfeld hinter der Schule, oder jedes andere Stück Rasen, das man in 5-Yard-Abschnitte unterteilen konnte. Und nun hing sein gesamter Werdegang an diesem verfluchten Fach. Jedes Mal, wenn er über diese Ungerechtigkeit nachdachte, fing es in Brian an zu brodeln. Zur Beruhigung schob er sich einen Priem Kautabak in