Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst Tegethoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742762917
Скачать книгу
Stadt verweilte. Der Abt begab sich mit seinen Kaplänen,

       seinen Schildknappen und seinem Gefolge dort-

       hin, und auch Constans befand sich darunter. Während

       der Abt mit dem Kaiser redete, mußte ihm der

       Jüngling seinen Filzhut halten. Der Kaiser betrachtete

       den Knaben und bemerkte, daß er so schön war, wie

       er nie zuvor einen gesehen hatte. Er fragte den Abt

       nach der Herkunft des Kindes, und dieser erzählte,

       wie es die Mönche vor fünfzehn Jahren mit zerschnittenem

       Leib auf dem Miste liegend gefunden hätten.

       Als der Kaiser dieses hörte, da wußte er, daß er der

       Knabe sei, dem er einst den Bauch gespalten hatte,

       um sein Herz herauszureißen, und er bat den Abt, er

       möge ihm den Burschen überlassen. Der Abt antwortete,

       er müsse zuerst den Konvent befragen, dann

       solle er ihn gern haben. Die Mönche rieten, man

       möge den Knaben nur schnell dem Kaiser schicken,

       damit er sich nicht erzürne. Nach kurzer Zeit wurde

       der Jüngling also dem Kaiser überliefert und dieser

       empfing ihn voll Zorn, daß solch ein hergelaufener

       Landstreicher seine Tochter heiraten solle; er überlegte

       aber in seinem Herzen, wie er ihn mit List aus der

       Welt schaffen könne, ohne daß es ruchbar würde.

       Der Kaiser hatte um diese Zeit an den Grenzen seines

       Landes zu tun, er nahm Constans mit sich, und

       als sie am Ziele waren, schrieb er folgenden Brief an

       den Burggrafen von Byzanz: »Ich, der Kaiser von Byzanz

       und Herr von Griechenland, tue zu wissen, daß

       der, welcher an meiner Statt das Reich beschützt, so-

       bald er diesen Brief zu Gesicht bekommt, den Überbringer

       desselben auf der Stelle tötet oder töten läßt,

       so ihm sein Leben lieb ist.« Solches stand in dem

       Briefe zu lesen, den Constans nach Byzanz tragen

       mußte, doch dieser wußte nicht, daß er seinen Tod

       trug. Der Jüngling nahm also den verschlossenen

       Brief, machte sich auf den Weg und gelangte nach

       vierzehn Tagen in die Hauptstadt. Als er durch das

       Tor ritt, war es gerade Mittagszeit, und er dachte bei

       sich, er wolle mit dem Überbringen des Briefes warten,

       bis der Burggraf gespeist hätte. Und da es gerade

       um St. Johannis und sehr heiß war, so trat er in einen

       Garten, ließ sein Roß weiden und legte sich in den

       Schatten eines Baumes, wo er alsbald einschlummerte.

       Es geschah aber, daß die schöne Kaiserstochter, als

       sie vom Mahle aufgestanden war, selbviert mit ihren

       Gefährtinnen in den Garten ging, und sie begannen

       einander zu haschen, so wie die Mägdlein es bisweilen

       der Kurzweil halber zu tun pflegen. Dabei gelangte

       sie zu dem Baume, unter welchem Constans schlief,

       und seine Wangen leuchteten purpurn wie Rosen. Als

       die Jungfrau ihn erblickte, betrachtete sie ihn mit

       Wohlgefallen und glaubte, daß sie nie in ihrem Leben

       ein so schönes Menschenbild gesehen habe. Dann rief

       sie ihre Vertraute und hieß die anderen den Garten

       verlassen. Die schöne Kaiserstochter nahm ihre Ge-

       spielin bei der Hand und führte sie dahin, wo der

       Schläfer lag. »Siehe,« sprach sie, »das ist der schönste

       Jüngling, den ich jemals sah, und er trägt einen

       Brief. Ich wüßte gar zu gern, was darin geschrieben

       steht.« Die beiden Mägdlein näherten sich dem Burschen

       und nahmen ihm seinen Brief fort, den die Kaiserstochter

       sofort aufbrach. Als sie ihn aber gelesen

       hatte, begann sie zu weinen und sagte: »Das sind

       traurige Sachen! Aber wenn ich wüßte, daß du

       schweigen kannst, so würde ich diese traurige Nachricht

       in eine freudige verwandeln.« Die Gespielin

       mußte schwören, daß sie nichts ausplaudern wollte,

       und dann nahm die Kaiserstochter ein Pergament, auf

       dem das kaiserliche Siegel eingeprägt war und schrieb

       wie folgt: »Ich, König Moslin, Kaiser von Griechenland

       und Herr der Stadt Byzanz entbiete meinem

       Burggrafen Gruß. Ich befehle Euch, daß Ihr dem

       Überbringer dieses Briefes meine schöne Tochter unverzüglich

       nach unserer Sitte zur Gattin gebt, denn

       ich habe für wahr erfahren, daß er von hohem Range

       ist und durchaus würdig, meine Tochter zu ehelichen.

       Die ganze Stadt und das ganze Land soll feiern und es

       sich wohlergehen lassen.« So schrieb die Kaiserstochter,

       und als sie fertig war, ging sie wieder in den Garten

       und schob den Brief in die Kapsel des schlafenden

       Boten. Darauf begann sie mit ihren Gespielen zu singen

       und zu lärmen, um ihn zu erwecken. Er erwachte

       alsbald und erschrak, als er sich von den Mägdlein

       umringt sah, die Kaiserstochter aber begrüßte ihn

       freundlich und fragte ihn, wohin er wolle. Sie erbot

       sich alsdann, ihn zum Burggrafen zu geleiten und

       führte ihn an der Hand ins Schloß, wo viele Leute

       versammelt waren, die sich alle von ihren Sitzen erhoben.

       Sie trat mit dem Jüngling in das Gemach des

       Burggrafen, öffnete die Kapsel und küßte Brief und

       Siegel ihres Vaters. Darauf zog sie sich mit dem

       Burggrafen in ein Nebenzimmer zurück, entfaltete den

       Brief und las ihn dem Burggrafen vor, dabei tat sie,

       als ob sie über die Maßen erstaunt wäre. »Herrin,«

       sagte der Graf, »wir müssen den Willen Eures gnädigen

       Vaters erfüllen, sonst werden wir gar sehr getadelt

       werden.« »Oho,« erwiderte die Jungfrau, »wie

       kann ich in Abwesenheit meines Vaters verheiratet

       werden? Das wäre doch sonderbar und ich bin ganz

       und gar nicht damit einverstanden!« »Euer Vater befiehlt

       so,« sagte der Graf, »da gibt es keine Widerrede!

       « Dann besprach sich der Burggraf mit den Baronen

       und zeigte ihnen den Brief, sie aber rieten alle,

       daß der Befehl des Kaisers