Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst Tegethoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742762917
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bewahren. Während er so in frommen Gedanken

       befangen war, hörte er das Glöcklein eines Einsiedlers

       läuten und sprach: »Ich will in die Kapelle gehen,

       um meine gewohnten Gebete zu sprechen und wenn

       möglich eine Messe zu hören. Mein Geschäft ist nicht

       so dringend, und bald wird der Gottesdienst beendet

       sein.« Er wandte sein Pferd nach rechts, ritt den

       Hügel, auf welchem die Klause des Eremiten stand,

       hinauf und betrat die Kapelle, während der heilige

       Mann die Messe sang. Als aber die Wandlung vollzogen

       wurde und der Jüngling unter Tränen an seine

       Brust schlug, siehe, da schwebte eine weiße Taube

       hernieder, welche einen Brief in ihrem Schnabel trug.

       Diesen ließ sie auf den Altar niederfallen. Nachdem

       der Einsiedler den Gottesdienst beendet hatte, küßte

       er das Schreiben dreimal und öffnete es sodann. Der

       Brief gebot dem Eremiten, er solle den Jüngling zurückhalten,

       bis die Mittagsstunde vorüber sei, denn

       Gott und die heilige Jungfrau, welche ihn in ihrer Hut

       hätten, wollten ihn aus Gefahr retten. Der Einsiedler

       trat auf den Jüngling, der schon sein Roß wieder besteigen

       wollte zu und bat ihn, bis Mittag bei ihm zu

       verweilen. Nach längerem Zögern willigte dieser ein

       und ließ sein Roß grasen; der heilige Mann jedoch

       hielt ihn mit freundlichen Worten so lange fest, bis

       die Sonne im Mittag stand.

       Der Lehrmeister, welcher nicht wußte, was aus dem

       Knaben geworden sei, begab sich unterdessen zum

       König, und dieser befahl ihm, unverzüglich in den

       Wald zu reiten und den Förster zu fragen, ob er des

       Königs Gebot erfüllt habe. Der Meister ritt in den

       Wald und sprach zum Förster: »Der König wünscht

       zu wissen, ob sein Wille geschehen ist.« »Nein,« versetzte

       jener, »noch nicht, aber gleich soll er geschehen.

       « Mit diesen Worten packte der Förster den

       Schurken und warf ihn ins Feuer, wo er alsbald zu

       Asche verbrannte.

       Alsbald kam der Knabe zu dem Feuer; diesem rief

       der Förster von weitem entgegen: »Ich weiß wohl,

       was Ihr wollt! Geht, und sagt dem König, daß ich seinem

       Befehle nachgekommen bin.« Sogleich wandte

       der junge Mann sein Roß, um dem König diese Botschaft

       zu überbringen. Als dieser die Wahrheit erfahren

       hatte, liebte er den Knaben noch inniger als früher

       und ließ ihn zu großen Ehren gelangen.

       Von der Königin, die ihren Seneschall tötete

       In Ägypten lebte einst ein König, der war jung, schön

       und reich. Gar sehr liebte er Hunde und Falken und

       trieb oft mit ihnen seine Lust. Eines Tages war er zum

       Jagen in den Wald gegangen; als er aber die Spur

       eines Hirsches verfolgte, brach ein furchtbares Unwetter

       los. Jeder suchte sich einen Unterschlupf, und der

       König blieb ganz allein; er ritt in ein Unterholz und

       verbarg sich dort so lange, bis das Wetter sich verzogen

       hatte. Der König ritt nun durch den Wald und

       suchte seine Begleiter, aber er hörte weder Horn noch

       Hund und wußte nicht, welchen Weg er nehmen sollte.

       Schon brach die Nacht herein, da fand er einen

       Pfad, der, wie er glaubte, ihn zu einer Herberge führen

       müsse. Und wirklich, wie er aus dem Walde trat,

       erblickte er einen Strom und ein Schloß darüber, und

       er dankte Gott, der ihm den Weg gewiesen hatte.

       Müde klopfte er an die Pforte der Burg, die Zugbrükke

       wurde herabgelassen, und der Schloßherr ging dem

       späten Gast, den er alsbald als seinen Lehnsherrn erkannte,

       entgegen, um ihn zu bewillkommnen. Im Saal

       begrüßten ihn die Gattin und die Tochter des Ritters,

       eine Jungfrau von außergewöhnlicher Anmut. Als der

       König die Maid erblickte, wurde sein Herz bewegt,

       und er hielt ihre Schönheit für wertvoller als alle seine

       Schätze. »Wenn sie meine Liebe nicht zurückweist,«

       sagte er zu sich selber, »so werde ich sie zur Königin

       machen. So soll es sein! Ich will sie besitzen!« Das

       Abendessen wurde aufgetragen, und die Jungfrau, die

       den Funken der Liebe in ihres Herren Herzen entzündet

       hatte, saß dem König gegenüber. Nach einer

       schlaflosen Nacht trat der junge König vor den

       Schloßherrn und trug ihm seinen Wunsch vor. Dieser

       warf sich ihm zu Füßen und dankte ihm die Ehre

       unter Tränen; darauf wurde allsogleich die Verlobung

       gefeiert. Kaum war die Feier beendet, so drang das

       Gefolge des Königs, das ihn den ganzen Tag gesucht

       hatte, in das Schloß, und alle freuten sich, ihn gesund

       zu finden.

       Der König hatte einen Seneschall, der alle seine

       Geschäfte besorgte, aber der war ein habgieriger

       Mann und von niedriger Gesinnung. Sein Herr, der

       ihm in allem vertraute, erzählte ihm seine Verlobung

       mit der Tochter des Ritters. Er ließ seine Braut rufen,

       und als der Seneschall sie erblickte, erstaunte er über

       ihre Anmut und lobte gar sehr den Entschluß seines

       Herrn. Bald darauf nahm der König Urlaub, nachdem

       er zuvor seiner Liebsten versprochen hatte, er wolle

       über drei Tage wiederkommen, doch nur im geheimen

       und unter vier Augen. Da beging die Jungfrau eine

       Torheit, die sie viel Tränen kosten sollte, sie zeigte

       nämlich ihrem Geliebten, wie er heimlich in ihr Ge-

       mach gelangen könne und gab ihm den Schlüssel zu

       einer verborgenen Pforte. Während des Heimrittes gestand

       der König seinem Seneschall, was er vorhabe.

       Dieser tadelte ihn, daß er sich und die Jungfrau der

       Schande aussetzen wolle und drang so lange in ihn,

       bis er versprach, die Sache auf sich beruhen zu lassen

       und den Schlüssel seinem Seneschall überantwortete.

       Als der Treulose das Schlüsselein in der Hand hielt,