Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst Tegethoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742762917
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hatte: sein Sinn war so ganz und gar vom Gedanken

       an die süße Mutter des Königs der Glorie erfüllt,

       daß er sich jedesmal, wenn er zum Stehlen ging, in

       ihre Hut empfahl. Und wenn er sich ihr empfohlen

       hatte, ging er ruhigen Herzens zum Raub, als ob er

       dazu beauftragt gewesen wäre. Niemals aber bestahl

       er die Armen und Bedrängten, vielmehr tat er ihnen

       Gutes wo er konnte, aus Liebe zur Gottesmutter.

       Eines Tages wurde er beim Diebstahl überrascht, und

       jedermann war sich darüber einig, daß er hängen

       müsse, denn er war weithin berüchtigt. Man legte ihm

       den Strick um den Hals und knüpfte ihn an den Galgen.

       Da rief er in seinem Herzen zu Unserer lieben

       Frau, diese aber, die nie einen der ihrigen vergißt,

       kam ihm alsbald zu Hilfe. Ihre weißen Hände breitete

       sie unter seine Füße und hielt ihn so zwei Tage lang,

       so daß er weder Schmerz noch Qual empfand. Am

       zweiten Tage kamen seine Henker, um nach ihm zu

       sehen. Als sie ihn lebendig und gesund fanden, sprachen

       sie: »Wir haben getrunken, ehe wir diesen Dieb

       hängten; schlecht haben wir gearbeitet, der Strick mag

       nicht recht gebunden sein.« Sie ergriffen ihre Schwer-

       ter und wollten ihn in die Gurgel stechen, aber sie

       konnten ihm kein Leids tun, denn die Mutter des Erlösers

       hielt ihre Hände schützend vor ihn. Da rief der

       Dieb: »Flieht, flieht, vergebens müht ihr euch, denn

       wißt, daß meine Herrin, die heilige Maria, mir zu

       Hilfe kam. Sie ist es, die mich stützt und ihre weiße

       Hand vor meine Kehle breitet. Die süße Herrin neigt

       sich zu mir und läßt nicht zu, daß ihr mir wehe tut.«

       Als die Henker diese Worte hörten, banden sie ihn los

       und sagten dem Himmelskönig und seiner Mutter für

       dieses Wunder Dank. Der Sünder aber trat am selbigen

       Tage als Mönch in ein Kloster und diente von

       nun an in Demut Unserer lieben Frau.

       Vom König, der den Sohn seines Seneschalls

       verbrennen wollte

       Ein König von Ägypten hatte einen Seneschall, der

       ihm lange gedient und dafür reichen Lohn verdient

       hatte. Diesem Seneschall war ein Sohn erwachsen, der

       das Alter von fünfzehn Jahren erreicht hatte. Der

       Knabe war verständig für sein Alter, und all sein Sinnen

       war auf die Liebe zu Gott und der hl. Jungfrau gerichtet.

       Es geschah aber, daß sein Vater krank wurde

       und zu sterben kam. Der König erfuhr davon, suchte

       den Kranken auf und setzte sich an sein Lager.

       »Herr,« sprach der Seneschall, »von Eurer Kindheit

       an habe ich Euch treu gedient, mehr als fünfunddreißig

       Jahre lang war ich Euer Knecht. Ich fühle, daß

       mein Ende naht, aber zuvor möchte ich Euch, lieber

       Herr, um eine Gnade bitten, die ihr mir um Gottes

       Willen gewähren mögt. Wenn ich tot bin, so nehmt

       Euch meines Sohnes an und wollet an ihm meine treuen

       Dienste vergelten!« Der König versprach dem

       Sterbenden, er wolle seinen Sohn stets um sich halten

       und ihm Land und Lehen geben. Darauf hauchte jener

       seine Seele aus.

       Der König hielt sein Versprechen. Er bestellte dem

       Jüngling einen Lehrmeister und zog ihn zusammen

       mit seinem eigenen Sohne auf. Täglich kam er, die

       Knaben zu sehen und ihnen Geschenke zu bringen; er

       hatte beide sehr lieb, und auch die jungen Leute

       waren einander in inniger Freundschaft zugetan. Der

       Lehrmeister aber war voll Zorn und Neid darüber,

       daß der König den Fremdling so schätzte, und er

       sagte in seinem treulosen Herzen: »Der König ist

       nicht weise, daß er einen hergelaufenen Burschen so

       wert hält wie seinen eigenen Sohn. Mir sollte er wohltun

       und mich achten, denn ich bin an mancherlei Künsten

       reich, statt dessen verschwendet er seine Liebe an

       einen, der sie nicht verdient. Aber ich will ihn auslöschen

       aus der Liebe des Königs.«

       Eines Tages wandte er sich an den Knaben und

       sprach tadelnd zu ihm: »Mein Sohn, wenn der König

       wieder herkommt und dich in seine Arme nimmt, so

       wende dein Haupt ab, denn dein Atem ist ihm nicht

       angenehm.« Bald darauf kam der König, die Knaben

       zu besuchen, und schloß beide in seine Arme; da

       wandte der Sohn des Seneschalls, welcher an nichts

       Arges dachte, sein Gesicht ab, um den König nicht zu

       belästigen. Dies tat er fünf oder sechsmal, bis der

       König es merkte und den Lehrmeister fragte, was das

       bedeuten solle. Der Treulose antwortete: »Herr, ich

       möchte Euch die Wahrheit sagen, wenn ich nicht

       fürchten müßte, Euch zu erzürnen. So wißt denn: der

       Knabe hat mir gestanden, daß er Euern Atem nicht ertragen

       kann.« Der König erschrak über diese Rede; er

       haßte von nun an den Knaben und schwur, ihm nicht

       mehr wohltun zu wollen, ja, er wollte ihn überhaupt

       nicht mehr sehen und beschloß, sich seiner zu entledigen.

       Der Verräter aber freute sich in seinem Herzen.

       Der König ließ einen Förster kommen und befahl

       ihm, daß er im Walde ein großes Feuer entzünde;

       welchen er, der König, aber als ersten dorthin senden

       werde, den solle er ergreifen und in das Feuer werfen.

       So lieb ihm sein Leben sei, solle er diesen Befehl

       vollziehen und die Ausführung geheim halten. Der

       Förster versprach zu tun, wie ihm befohlen sei, er

       kehrte heim und zündete das Feuer mit eigener Hand

       an. Darauf ließ der König den Burschen rufen und

       gebot ihm, sogleich sein Pferd zu besteigen, um eine

       Botschaft zu überbringen. Dabei trug er ihm auf,

       wohin er reiten und was er dem Förster sagen solle.

       Der Jüngling stieg sogleich zu Roß und ritt eilends

       davon. Auf dem Wege empfahl er sich Gott und der