Keine Anleitung zum Mord. Anton Theyn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anton Theyn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738070330
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wird heute einen schweren Arbeitstag haben. Irgendwer muss als Blitzableiter für seine Wut herhalten. Das Werkstor schließt sich hinter mir. Ich komme mir vor wie ein Gefängnisinsasse, hinter dem sich nach der Verurteilung für Jahre die Tür schließt. Nur wo ist bei mir innen und außen. Ich bin ein Gefangener auf der anderen Seite des Werkstores. Quo vadis? Wohin gehst du? Wohin soll ich gehen?

      Wenigsten weiß mein Navi den Weg. Nein, ich fahre nicht nach Hause. Die erste Frage der Nachbarn wird lauten, ob ich denn Urlaub habe. Meiner Haushälterin will ich heute auch nicht begegnen. Wie fremdgesteuert fahre ich in den Wald. Für einen Waldspaziergang im Januar bin ich nicht wirklich angezogen. Egal - ich werde es überleben. Oder nicht? Dann ist es auch gut.

      Ich muss erst einmal zu mir finden, verstehen, was passiert ist. Aber die Gedanken verlieren immer wieder die Richtung. Winterlich liegt der kahle Wald da, als spiegelte er meine eigenen trostlosen Gefühle. Der Herbst hat den Bäumen die Blätter genommen. Es fehlt das Leben. Mir hat man soeben meine berufliche Existenz genommen, meine Existenz, meinen Lebensmittelpunkt.

      Ziellos laufe ich weiter durch den unwirtlichen Wald. Nasskalt, leichter Nebel, gedrückte Stimmung, alles grau in grau. Nicht einmal einzelne Sonnenstrahlen schaffen es, durch die Nebelschwaden zu dringen. Ohne auf den Weg zu achten, laufe ich weiter. Für mich völlig ungewohnt. Ob privat oder beruflich – ein Ziel gab es immer. Selbst sonntags vor einer Fahrradtour kannte ich immer das Ziel. Einfach losfahren, gab es für mich nie.

      Was habe ich falsch gemacht? Ich werfe mir nichts vor. Als die ersten Menschen versuchten, das Feuer zu entzaubern und für sich zu nutzen, gab es bestimmt Mahner. Solche, die Gefahren sahen und versuchten, das zu unterbinden. Hätten sich die Skeptiker durchgesetzt, würden wir noch heute bei Kälte frieren und das Fleisch roh von den Knochen reißen - selbstverständlich in Höhlen.

      Zweifellos gibt es auch Gefahren durch Feuer, Brandstifter und von mir aus auch andere Verbrechen. Hätten Franklin und andere nicht den Blitz und die Elektrizität in unseren Dienst gestellt, wären wir auf dem Stand der Dampfmaschine stehen geblieben. Es soll, bei aller Tragik, auch Todesopfer durch elektrischen Strom geben. Trotzdem käme kein vernünftiger Mensch auf den Gedanken, elektrischen Strom aus unserem Leben zu verbannen. Wer möchte deshalb heute ernsthaft auf die Möglichkeiten der Elektrizität verzichten?

      Ich kann Tausende von Beispielen aufzählen. Ob ich die Kernforschung nehme, die Chemie, die Medizin, die Raumfahrt oder einfach nur ein Messer. Bei einem Messer reichen die Einsatzgebiete von der Hilfestellung beim Kochen und Essen, über das unverzichtbare Werkzeug vieler Handwerker und Instrument jedes Chirurgen bis hin zum Tötungswerkzeug. Verbieten wir Messer und verurteilen wir den Erfinder des Messers? Nein.

      Als Biochemiker habe ich intensiv auf dem Feld der Medikamentenforschung gearbeitet. Die Grundlagen meiner beruflichen Entwicklung legte ich im Rahmen meiner Promotion. Die Amerikaner sind da offener. Es darf geforscht werden, wo es etwas zum Forschen gibt. Notfalls auch geheim oder hochgeheim oder in einem Hochsicherheitsbereich. Wir haben viele neue Medikamente auf den Markt gebracht. Ohne eitel zu sein, kann ich sagen, dass das Unternehmen wesentliche Teile des wirtschaftlichen Erfolgs der letzten Jahre meiner Abteilung zu verdanken hat.

      Ich merke, dass ich viel weiter gegangen bin als beabsichtigt. Mein Interesse nach Hause zu kommen liegt bei null. Ein Rest von Vernunft oder besser, der Wille, mir keine Grippe einzufangen, lässt mich dennoch umkehren. Ich habe keine Vorstellung, was ich Zuhause machen soll.

      Auf dem Rückweg und immer noch in Gedanken versunken. Mein unfreiwilliges Ausscheiden aus dem Unternehmen wird nach meiner Einschätzung keinen allzu großen Bruch in der Forschung und Entwicklung bedeuten. Es gibt in meiner Abteilung, ich stocke kurz, in meiner ehemaligen Abteilung, genügend fähige Leute, die meine Aufgaben übernehmen können.

      Ist das strategisch falsch gewesen? Ich habe mein Wissen und meine Ergebnisse nicht abgeschottet. Alle durften an den Ergebnissen partizipieren. Der Vorteil einer solchen Berufseinstellung liegt in dem größeren Entwicklungspotential für neue Produkte. Die Mitarbeiter sind motivierter und bei Ausfällen von Mitarbeitern lassen sich die Lücken problemlos schließen.

      Natürlich gibt es Nachteile einer solchen Arbeits- und Wissensteilung. Man kann von einem auf den anderen Tag als ungeliebter Mitarbeiter aussortiert werden. Aussortiert wie ein schlechtes Werkstück am Ende des Fließbandes. Erwin wusste das nur zu gut. Ich wusste es auch, aber ein derartiges Ende war außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Für mich gab es keine Veranlassung, meine Position durch Geheimhaltung von Forschungsvorhaben oder Forschungsideen vor meinen Mitarbeitern abzusichern.

      Ein schwerer Unfall im Straßenverkehr, ein plötzliches gesundheitliches Problem oder ein längerer Urlaub, das waren für mich vorstellbare und mögliche Szenarien. Ein Ausfall meiner Arbeitskraft sollte sich nach meiner Philosophie nie zum Nachteil des Unternehmens auswirken.

      Das Unternehmen stand für mich immer ganz oben. An meine eigene Absicherung habe ich nie gedacht. Durch geschickte oder offensiv betriebene Geheimhaltung hätte ich mich auf mehrere Jahre unentbehrlich machen können. Ich wollte das nicht. Selbst in Kenntnis dessen, was man heute mit mir gemacht hat, würde ich wieder genauso handeln.

      Ich bereue nichts, gar nichts. Ich würde alles genau so wieder machen. Wenngleich ich beruflich erledigt bin. Es gibt in Deutschland, Europa, USA und Australien nur wenige Unternehmen, in denen ich mit meinen Spezialkenntnissen arbeiten könnte. Aber das ist rein hypothetisch. Keiner wird mich nehmen. Mein plötzliches Ausscheiden macht spätestens morgen die Runde in den Fachkreisen. Man kennt sich. Wir kennen uns. Im Rahmen der bekannten Forschungsergebnisse tauscht man sich auf Kongressen und Tagungen aus.

      Und wenn ein Leiter der Forschungsabteilung freigesetzt wird, dann ist er freigesetzt. In der Branche ist für mich kein Platz mehr. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass mich doch jemand einstellen möchte, genügt ein Anruf bei Erwin und die Bewerbung hat sich erledigt. Sprich, ich bin erledigt, beruflich erledigt.

      Ich bin in einem Wald ohne Erhebungen, ohne Berge, keine Felsen, keine Schluchten. Anders wäre es in Österreich, da hätte ich es jetzt leicht. Blick in eine Schlucht und nur einen Schritt weiter. Noch eine Traueranzeige des Unternehmens für den verdienten Mitarbeiter, ein letzter zynischer Gruß von Erwin.

      Ich schüttle den Gedanken ab und versuche nach vorne zu sehen. Privat gibt es zu wenig, kein Familienleben, zu wenige Hobbys, um das Leben sinnvoll oder auch nur erträglich zu gestalten. Zu lange habe ich allein für das Unternehmen gelebt, war mehr oder weniger mit ihm verheiratet. Wie viele Wochenenden und Nächte habe ich im Labor verbracht? Nicht selten bin ich mitten in der Nacht aufgestanden, um Reaktionen von Organismen zu beobachten oder einfach nur nach dem Rechten zu sehen. Beim Essen mit Freunden und Bekannten, erinnere ich mich, habe ich wie oft unruhig auf die Uhr gesehen und gehofft, dass wir uns endlich verabschieden, um noch mal ins Labor zu fahren. Meine Söhne haben mich selten gesehen. Wenn bei mir Feierabend war, lagen sie meist schon im Bett. Und am Wochenende habe ich mir auch zu selten Zeit genommen. Das Versäumte erkennt man erst im Nachhinein. Trotz allem - ich bereue nichts. Die Tristesse des Winterwaldes verstärkt meine Stimmung.

      Viele Stationen der letzten Jahre kommen mir in den Sinn. Wie aus einer Kiste mit unsortierten alten Bildern kommen die Erinnerungen aus Familie, Beruf, Studium, Kindheit und Schule. Ich weiß, von außen betrachtet, befinde ich mich in einer relativ komfortablen Situation. Und trotzdem, so wie ich müssen sich viele Menschen nach dem Krieg gefühlt haben. Alles in Trümmern. Nur bei mir nicht materiell, sondern emotional.

      Wieder kreist mein Denken um mein berufliches Überleben. Es gibt Möglichkeiten: Südamerika oder Asien. Gut dotiert und mit bester Laborausstattung könnte ich dort meine Forschung fortsetzen. Dort gäbe es nicht diese Grenzen, die mir bislang Wege versperrt haben.

      Aber Medikamentenentwicklung in diesen Ländern? Nein, das geht für mich gar nicht. Ich mache keine Experimente an Menschen. Nein, nein, nein. Ich kann und will nicht über meinen Schatten springen. Und ein Leben in diesen Ländern kann ich mir nicht vorstellen. Hinzu kommt, dass ich nach wie vor einen gültigen Arbeitsvertrag habe. Selbst wenn ich wollte, ich dürfte in keinem Unternehmen arbeiten, zumindest nicht in den nächsten zwei Jahren.

      Vielleicht sollte ich mich perspektivisch