Keine Anleitung zum Mord. Anton Theyn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anton Theyn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738070330
Скачать книгу
das einer gesehen, wäre ich nicht mehr an die Daten herangekommen und ich hätte wirklich ein Problem bekommen. Bei der Fahrt in die Firma fliegen 28 Jahre Arbeit wie in einem Film an mir vorbei. All die Forschungen und Entwicklungen. Niederschläge, Fehlversuche, Spitzenerfolge, Anerkennungen. Die Ehrungen und Erfolge nahm die Unternehmungsleitung gerne mit. Bei Schwierigkeiten musste die zweite Reihe herhalten. Das hat mir nie viel ausgemacht.

      Ich muss nicht auf der Bühne stehen, mit dem Ministerpräsidenten und seiner Gattin über das Golfspiel und das Reitturnier sprechen. Meine Welt ist das Labor. Ist das Labor oder war das Labor?

      Vor dem Werkstor stoppe ich meinen Wagen. Ich gehöre zu den Mitarbeitern, die auf das Betriebsgelände fahren dürfen. Der Betriebsparkplatz befindet sich außerhalb des eigentlichen Betriebsgeländes. Als Zeichen der Wertschätzung der Mitarbeiter hat man den Zugang überdacht. In der Stahlindustrie hat man das bereits vor 100 Jahren gemacht. Findige Köpfe hatten schon damals herausgefunden, dass ein Wetterschutz vor den langen Zugängen zu den Fabrikhallen den Krankenstand erheblich reduziert. Hat Erwin einmal die Rentabilität der Überdachung berechnen lassen? Ich möchte fast darauf wetten.

      Neben dem Pförtner stehen heute zwei Herren vom Werkschutz und werfen mir vielsagende Blicke zu. Mit einer generösen Geste gestatten sie dem Pförtner das Öffnen der Schranke. Allein die Blicke geben mir zu verstehen, dass ich ohne die beiden Wichtigtuer heute keinen Schritt machen werde.

      Einer von beiden telefoniert. Mit Sicherheit die interne Nummer 1947 - die Nummer von Erwin. 1947 - so was denkt sich Erwin aus. Sein Geburtsjahr? Nein, so alt ist er nicht. Nein. 1947 - das Gründungsjahr von Ferrari. Das ist Erwin.

      Und noch ehe ich meinen Wagen abgestellt habe und aussteige sehe ich ihn schon kommen - flankiert von den beiden Herren. „Guten Morgen, bekomme ich Handschellen?“, frage ich sarkastisch. Für derartigen Humor hat Erwin wenig übrig. Alle drei grüßen mit einem „Guten Morgen.“ in einem fast militärischen Gleichklang und einer Kälte, dass das Wasser an dem winterlichen, aber frostfreien Januarmorgen in den Pfützen gefriert.

      Haben die das abgesprochen und geübt? Es muss ein groteskes Bild sein. Ein Mitglied des Vorstandes, zwei Herren vom Werkschutz eskortieren mit versteinerten Mienen den Leiter der Forschungsabteilung wie einen Schwerverbrecher. Wahrscheinlich hat er das Firmenkonto geplündert, den Vorstandvorsitzenden umgebracht, das Unternehmen angezündet und wollte mit der Frau des Chefs nach Südamerika durchbrennen.

      Was habe ich gemacht? Nichts anderes, als das, was jeder Forscher macht. Forscher verschieben die Grenzen des Machbaren. Was gestern noch Utopie war, ist morgen Wirklichkeit und übermorgen unverzichtbarer Alltag. Auf den Fluren begegnen uns immer wieder Mitarbeiter, die uns mit verständnislosen Blicken anstarren. Die Situation lässt mir keine Möglichkeit, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

      Die kurze Nacht, der viele Kaffee. Ich sollte mich krank melden. Wir stehen vor meiner Bürotür. Fassungslos stehe ich davor. Ich glaube es nicht. Heute Nacht war das Namensschild mit meinem Namen noch da. Heute früh ist es bereits entfernt. Ich denke an Offiziere, denen man früher als Zeichen ihrer Degradierung die „Schulterklappen" vor versammelter Mannschaft abriss. Wenigstens bleibt mir eine öffentliche Hinrichtung erspart. Vielleicht gibt man mir etwas mit, eine Pistole, eine unauffällige Kapsel mit Zyankali, damit ich das heute Zuhause erledige. Die Geschichte kennt dafür genügend Beispiele. In der Wirtschaft wäre das neu.

      Nein, stimmt nicht. Am schwarzen Freitag haben sich auch Börsenspekulanten reihenweise das Leben genommen. „Hast du meine Frage nicht verstanden?“ „Ich muss sie wohl überhört haben. Bitte entschuldige, lieber Erwin, ich war mit den Gedanken bei meiner Arbeit. Du weißt ja, wenn ich in meine Arbeit vertieft bin, nehme ich Störgeräusche nicht wahr.“ Ich weiß, dass Erwin innerlich kocht. Seine Worte als Störgeräusche zu bezeichnen empfindet er als Majestätsbeleidigung. „Ich habe dich gefragt, ob du private Dinge in deinem Büro hast?“ Ich überlege, was mir privat gehört. Ein Ersatzhemd, ein paar Krawatten. Ich werfe Krawatten und Hemd zur Verwirrung der Umherstehenden demonstrativ in den Mülleimer. Natürlich genieße ich die Symbolik. Ich werfe alles, was mich noch mit der Firma verbindet, demonstrativ und öffentlich in den Mülleimer.

      Ein Mitarbeiter nach dem anderen verabschiedet sich von mir. Sogar die Damen vom Reinigungspersonal drücken mir die Hand. Meine Sekretärin heult hemmungslos. Mein Laborleiter ringt um Fassung. „Franz, ich wurde unter Druck gesetzt. Ich habe das nicht gewollt.“ Er schüttelt den Kopf, blickt zu Boden. „Man hat mir gedroht. Du weißt das, ich habe dich nicht verraten. Das muss doch zu klären sein.“

      Der verächtliche Blick von Erwin spricht Bände und sein Satz kommt mir vor wie blanker Hohn. „Die ethischen Werte unseres Unternehmens sind unantastbar und bleiben unantastbar.“ Lieber Erwin, denke ich mir, häng dich mal nicht so weit aus dem Fenster. Natürlich warst du damals noch nicht dabei, das Glück der Spätgeborenen. Auf ethische Werte hat man in dieser Firma oft genug wenig Wert gelegt.

      Forschung um jeden Preis und mit menschenverachtenden Versuchen. Nur aufgrund wirtschaftlicher Interessen der Besatzungsmacht wurde das Unternehmen nach dem Krieg nicht dem Erdboden gleich gemacht. Den Namen hat man geändert und damit war der Persilschein ausgestellt. Die amerikanischen Anteilseigner hatten am Werterhalt der Firma großes Interesse. Knowhow und ein vielversprechender Markt waren viel zu wertvoll, als dass man auch nur den Gedanken an eine Vernichtung verschwendet hätte.

      Und jetzt baden Nachfolgegeneration und Erben in ethischen Grundwerten, die in der Vergangenheit mit Lederstiefeln getreten wurden und die man bei Bedarf übermorgen neu definiert. Der Lederstiefel wird dann durch die unbarmherzige Gier des Shareholder Value ersetzt.

      Ich habe keinem etwas getan. Nicht einmal einer Labormaus. Ich meine den vierbeinigen. Von den zweibeinigen habe ich ohnehin immer die Finger gelassen. Ich hätte die Assistentinnen auch nie als Labormäuse bezeichnet. Die Bezeichnung kommt aus anderen Ecken und entspricht weder meiner Sprechweise, geschweige denn meiner Denk- und Handlungsweise.

      Als Studenten musste wir immer wieder einmal Laborratten töten und sezieren. Wie habe ich das gehasst. In meiner Erinnerung ist das mit Abstand der unangenehmste Teil meines Studiums gewesen.

      Halb abwesend neigt sich die Verabschiedungszeremonie dem Ende zu. Selbst meine Scheidung empfinde ich im Nachgang als weniger schmerzhaft und einschneidend. Mein Gefühl sagt mir, ich bin am absoluten Nullpunkt meines Lebens angekommen. Bisher ging es, bis auf kleine Dellen, immer bergauf. Mein Leben war kalkulierbar. Es gab einen Lebensplan. Dieser Lebensplan ist seit gestern Abend zerstört. Ein jäher Absturz innerhalb von wenigen Stunden. Ich bin wie gelähmt. Wenn ich heulen könnte, würde ich heulen. Nicht einmal dazu bin ich in der Lage. Diesen Triumph würde ich Erwin nicht gestatten.

      Ich gehe noch einmal zu meinem Laborleiter. „Ich weiß, du kannst nichts dafür. Mach dir keine Vorwürfe. Wir haben uns nah an der Grenze bewegt, ohne diese je zu überschreiten.“ Bei all dem Aufruhr beobachten mich permanent sechs Augen.

      Als würde Erwin es genießen oder genießt er es wirklich? „Die Schlüssel, gib mir bitte die Schlüssel.“ Ich lasse Schlüssel, Codekarte und Werksausweis in seine schalenförmig geöffnete, weit ausgestreckte Hand fallen. Selbst mit dieser Geste muss er mir zeigen, dass er maximal möglichen Abstand zu mir wahren will.

      Das letzte Mal die Treppe runter, ich habe fast nie für die drei Stockwerke den Fahrstuhl genommen. Meine drei Begleiter schauen mich mürrisch an. Eine weitere Minute, die ich zum Unmut der drei im Unternehmen verbringe. Sie begleiten mich bis zum Auto. Mein Hals ist wie zugeschnürt, trotzdem der Satz muss sein, auch wenn meine Stimme fremd und rau klingt.

      „Erwin, denk bitte daran, ich benötige ein Arbeitszeugnis.“ Dem sonst so gefassten und berechnenden Erwin entgleisen die Gesichtszüge. Grußlos steige ich ins Auto, steige noch einmal aus, öffne den Kofferraum, starre in den leeren Kofferraum, schließe ihn wieder, öffne noch einmal die hintere Tür auf der Beifahrerseite, schließe diese umständlich, steige ins Auto, öffne noch einmal das Handschuhfach, um es gemächlich zu schließen, tippe idiotischer Weise in mein Navi als Ziel meine Wohnanschrift ein, lege umständlich den Sicherheitsgurt an und fahre langsam, ein letztes Mal Richtung Werkstor.

      Die