Sternenstaub. Juliane Kroos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Juliane Kroos
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742719508
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erblickte Robinia ihre Rettung – ein Rettungsboot. Sie sprang in das kleine Ruderboot und machte die Seile los, sodass es mit einem Platschen auf die Wasseroberfläche fiel. Dann ruderte sie und ruderte und ruderte. Sie hatte keine Ahnung wo auf dem weiten Meer sie sich befand, geschweige denn wo Eisland war. Sie ruderte dennoch weiter, denn das Rudern würde sie irgendwo hinbringen.

      Kapitel 5

      Auf dem Ozean,

      in der Dunkelheit

      Robinia verlor ihr Gefühl für die Zeit. Vor ihr die endlose Weite des Ozeans, über ihr die endlose Weite des Himmels und des Weltalls, sie umschließend die unendliche Weite der Dunkelheit. Robinias Herz zog sich zusammen und ward beklommen. Sie fühlte sich klein, gar winzig, unbedeutend und einsam. Kühle Tränen rannen ihre Wangen hinab, während die Wellen des Ozeans ihr kleines Ruderboot wie eine Nussschale in der Unendlichkeit vorantrieben.

      Die See wurde rauer, Wind kam auf und pustete ihr die Tränen aus dem Gesicht. Robinia schaute auf und erblickte wie aus dem Nichts die Mauer. Ein elektrisierender Impuls durchfloss ihren Körper. Es gab sie wahrhaftig. Die Mauer war größer als das Abbild, welches sie sich aus den Fernsehnachrichten gemacht hatte. Schlagartig fiel Robinia ein, was dort über die Menschen, die der Mauer zu nahe kamen, berichtet wurde. Sie hielt einen Moment inne und atmete tief durch. Ihre Gedanken und Gefühle mussten sich erst einmal sortieren bis sie wieder einen klaren Kopf fand.

      Wenn sie in einem gewissen Abstand mit ihrem Ruderboot entlang der Mauer fahren würde, müsste sie irgendwann auf Eisland stoßen und vielleicht würde sie auf dem Weg dahin ja schon Anzeichen für das Schlupfloch entdecken, so ihr Plan.

      Robinia sprach sich Mut zu und umschlang willensstark das Holz der Ruder. Instinktiv steuerte sie das Boot in eine der zwei möglichen Richtungen. Sie fuhr eine gefühlte Ewigkeit bis sie in der Ferne deutlich höhere Wellen erspähte und Feuer wie aus dem Nichts entflammte. Gegen alle Regeln des menschlichen Verstandes schwang sie nun ihre Ruder heftiger. Sie wollte sehen, was dort vor sich ging und ob es sich vielleicht um das Schlupfloch handelte.

      Umso näher sie kam, umso deutlicher konnten ihre Augen die vorher schemenhaften Umrisse machen. Irgendetwas Kleines flog dort vogelähnlich in der Luft. Irgendwann war Robinia dicht genug herangepaddelt um zu erkennen, dass es kein echter Vogel war, sondern ein Gestell aus Stoff und Holz, mit einer Flügelspannweite von gut sechs bis acht Metern.

      In der Mitte des Gestells befand sich ein Mensch, kaum älter als sie es war, der sich wie wild hin und her bewegte um das Flugobjekt zu manövrieren. Alsbald der künstliche Vogel der Mauer dichter kam, blies der Wind umso heftiger. Dabei geriet das Ding in spiralförmige Trudelbewegungen, immer dem Absturz kurz bevor. Dadurch, dass der Flieger sich von der Mauer entfernte, gelangte er wieder zu Stabilität um dann das Vorhaben von neuem zu starten.

      Er schwang die Flügel heftig und gewann deutlich an Höhe. Schließlich steuerte er geradewegs auf die Mauer zu, mit der scheinbaren Absicht diese überqueren zu wollen.

      Robinia beobachtete das Spektakel mit einem Grummeln im Bauch. Sie war geradezu darauf erpicht zu sehen, was geschah, wenn dieser Junge sein Vorhaben tatsächlich umgesetzt bekäme. Gleichzeitig hatte sie wahnsinnige Angst Zeugin eines tragischen Szenarios zu werden, das mit dem Tod des Piloten enden würde.

      Mit einem Mal schrie der Junge im künstlichen Vogel laut auf und Blut rann aus seiner Brust. Er gab noch weitere Laute des Schmerzes von sich und krümmte sich immer wieder. Doch von seinem fest anvisierten Ziel ließ er nicht ab. Koste es was es wolle.

      Er war gerade am Scheitel der Mauer angelangt als wie aus dem Nichts des schwarzen Himmels eine Flamme entfachte. Der Stoff und das Holz seines Fluggestells fassten Feuer und brannten lichterloh nieder. Er stürzte wie ein Stein vor der Mauer in die Tiefe der Dunkelheit ab. Regungslos schwammen er und die Reste seines Kunstvogels auf der Wasseroberfläche. Die Wellen trieben ihn gemächlich von der Mauer weg. Der Sturm und die See beruhigten sich derweil.

      Starr und weit aufgerissen erfassten Robinias Augen das Szenario, welches sich vor ihnen abspielte. Immer wieder blickte sie abwechselnd von der Mauer hin zum bewegungslos dahintreibenden Jungen. Schließlich fasste sie sich ein Herz und lenkte das Boot geradewegs auf den Verunglückten hinzu.

      Das Holz glühte noch und entließ kleine Rauchfäden gen Himmel. Der Junge schwamm kopfunter auf der Wasseroberfläche. Sein mittellanges blondgewelltes Haar schwabbte sachte mit den Wellen hin und her.

      Mit all ihrer Kraft zog Robinia den Jungen an den Armen hoch. Sein Gesicht war aschfahl, abgesehen von den unzähligen blauen und lila Flecken, die es zierten. Beim Versuch den regungslosen Körper in ihr Boot zu hieven, versagten ihr jedoch die Kräfte und er fiel wie ein Sack zurück ins tiefblaue Nass.

      Robinia gab allerdings nicht auf und versuchte es erneut. Unter Schreien der Anstrengung, gar Verzweiflung, gelang es ihr den Körper über die Kante des Bootes zu ziehen. Wie eine leblose Robbe rutschte der Geborgene kopfüber auf die harten Bodenbretter.

      Robinia hatte Mühe ihn auf den Rücken zu drehen. Als sie es dennoch geschafft hatte, fiel das Mondlicht zart auf sein Gesicht nieder. Seine Haut war, abgesehen von den unzähligen Verletzungen, rein und sein Gesicht zierte ein Lächeln. Robinia fasste zaghaft mit ihrer Hand an seine Wange. Er fühlte sich ganz sanft an. Dem jungen Mädchen wurde warm ums Herz.

      Einen Moment später holte Robinia aus und schlug ihm mit der blanken Handfläche ins eiskalte Gesicht. Sie rüttelte und schüttelte an ihm. Blies ihm Luft über seine zarten Lippen in die Lungen, drückte mit den Fäusten auf seinem Brustkorb und flehte darum, dass er endlich aufwachen sollte.

      Mit einem Mal hustete er laut auf und krümmte sich. Das Wasser des Ozeans rann ihm aus dem Mund. Er japste erbärmlich nach Luft und fing vor Kälte an zu zittern. Robinia zog seine nassen Stiefel und Socken aus. Dabei war eine Socke rot-weiß gestreift, die andere blau-weiß gepunktet. Dann nahm sie ihm Mantel und Hemd ab.

      In seiner linken Brust klaffte eine kleine Wunde. Ein roter Schnitt durchbrach die Makellosigkeit seiner blassweißen Haut. Robinia beugte sich näher heran um die Verletzung zu begutachten. Zum Glück bohrte sich die Wunde nicht tief in sein Fleisch hiniein. Sein Herz schien unversehrt. Zur Sicherheit hielt sie ihre Hand auf seine kalte Brust und fühlte ein regelmäßiges Pochen, dass mit dem Pochen in ihrer Brust in Einklang ging. Wenige Sekunden verblieb sie in jener Haltung.

      Ein Augenblick, der in den Weiten der Unendlichkeiten unendlich hätte sein können. Doch Robinia besann sich schnell wieder und nahm einen Pfeil aus ihrem Köcher und hielt ihn an den Einschnitt. Es handelte sich eindeutig um einen Pfeilschuss, den der Junge abbekommen hatte. Robinia konnte sich nur nicht erklären wie dies zustande gekommen war. Sie hatte Feuer, Sturm und tobende Wellen gesehen, doch keine fliegenden Pfeile. Im Wundern nahm sie eine eigens angemischte Tinktur und ein Pflaster aus ihrem Rucksack und klebte es auf das offene Fleisch. Schließlich zog sie ihm ihre einzigen Wechselsachen an und zerrte seinen Körper in ihre wärmenden Arme, in denen er benommen einschlief.

      Während er im Land der Träume verweilte, ließ Robinia fast keinen Blick von ihm abschweifen. Sie wachte über ihn und vergewisserte sich immer wieder darüber, dass er noch atmete, dass seine Haut wärmer wurde und sein Herz noch schlug. Es dauerte einige Stunden bis ihn seine Träume losließen und er die Augen wieder öffnete.

      Er schaute sie an. Sie schaute ihn an. Um sie herum der unendliche Ozean, der unendliche Himmel und die unendliche Dunkelheit, allein vom Dämmerlicht auf der anderen Seite der Mauer unterbrochen. Der Vollmond schien herab und die Sterne funkelten. Jedwede Umstände ausgeblendet, die dazu führten, dass die beiden sich in jenem Augenblick, an jenem Ort, anschauten, besaß der Moment unendliche Schönheit.

      „Wie geht es dir?“ Durchbrach Robinia die unendliche Stille.

      „Ich fühle mich wie in unzählige Einzelteile zerschmettert.“ Antwortete er benommen und weiterhin in ihrem Schoß liegend.

      Dann fielen seine Augen erneut zu und er in einen weiteren tiefen Schlaf. Nach einer undefinierbaren Zeit blickte er sie wieder an.