Sternenstaub. Juliane Kroos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Juliane Kroos
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742719508
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er seinen Fuß auf die Bremse und hob seine rechte Hand zum Schutz vor die Augen. Das Auto quietschte und schlängelte bis es zum Stehen kam. Als erstes, nach dem plötzlichen Schreck, schaute Emil Siegfriedsson in den Rückspiegel um sich zu vergewissern, dass ihm kein weiteres Auto aufgefahren war – obwohl ein solches Szenario sehr unwahrscheinlich war. Im Rückspiegel war, wie zu erwarten, alles schwarz. Anschließend manövrierte Emil Siegfriedsson sein Gefährt an den Straßenrand und stieg aus, wobei er die Tür so leise wie möglich schloss. Er wollte kein Aufsehen erregen.

      Riesige Baustrahler leuchteten eine riesige, aus großen Granitsteinen gemachte, Mauer an. Die Mauer war allerdings noch nicht fertig, so wie es Emil Siegfriedsson einschätzte, denn überall wimmelte es von emsigen Arbeitern. Kräne hievten neue große Steine hoch und platzierten sie auf die eh schon große Mauer. Es klopfte und hämmerte.

      Auf einem Mal fiel Emil Siegfriedsson ein immenses Banner auf, welches dafür Werbung machte, dass hier eine neue Unterkunft für das Steinvolk entstehen würde. Das interessierte ihn. Er gehörte zu den Eisländern, die an die Existenz des Steinvolks glaubte. Folglich marschierte er Richtung Mauer.

      Auf Eisland gab es den Aberglauben, welcher besagte, dass es unsichtbare Leute gab, die in Steinen wohnen würden. Das sogenannte Steinvolk oder im Volksmund auch die Unsichtbaren genannt. Um sie rankten sich unzählige Legenden und Mythen. Und nichts spaltete die Eisländer so sehr wie der Glaube an die Existenz jenen Volkes. Manche taten sie als reinen Humbug ab, andere hingegen verdienten ihren Lebensunterhalt mit ihnen, als Steinvolkkorrespondenten beispielsweise.

      Emil Siegfriedsson steuerte den ersten Bauarbeiter an, den er auf seinem Weg kreuzte. Dieser stand mit dem Rücken zu ihm und war ganz vertieft in irgendwelche Dokumente, die er in der Hand hielt. Emil Siegfriedsson tippte ihm auf die Schulter. Der Bauarbeiter zuckte zusammen und stieß ein Grunzen des Erschreckens aus.

      „Was machen Sie um Gottes Namen hier?“ Fuhr ihn der Arbeiter an.

      Emil Siegfriedsson war aufgrund der Forschheit seines Gegenübers erstaunt und schaute ihn deshalb erstmal nur mit großen Augen an.

      Derweil fuhr der Bauarbeiter fort. „Es ist doch Silvester. Sind Sie gar nicht in der Stadt um sich das große Feuerwerk anzuschauen?“ Mittlerweile hatte er sich ein Stück weit gefangen.

      „Nein, das ist nichts für mich.“ Erwiderte Emil Siegfriedsson. „Warum sind Sie nicht in Rauchbucht, sondern müssen hier an diesem Feiertag arbeiten? Und was wird das, wenn es fertig ist? Also wenn ich fragen darf.“

      Der Bauarbeiter schmatzte kurz und zuppelte sich am Helm. So als wenn er einen Augenblick darüber nachdenken musste, was er sagen solle und was lieber nicht. „Naja, das ist so.“ Begann er und machte eine kurze Pause. „Das hier wird ein neuer, riesiger Wohnkomplex für das Steinvolk. Die regierenden Leute wollen sie dazu bewegen, dass sie sich alle hier gesammelt in den Steinen niederlassen, sodass es z. B. weniger Hurteleien im Straßenbau gibt. Wovon wir alle was hätten. Also wir und sie auch.“

      Emil Siegfriedsson nickte, denn er kannte die Problematik im Straßenbau. Ein ums andere Mal mussten gerade verlaufende Straßen eine zusätzliche Kurve um einen Stein machen, weil die Steinvolkkorrespondenten sich mit den versteckten Leuten nicht auf eine Umsiedlung ihres Steines einigen konnten.

      Der Bauarbeiter fuhr fort. „Wir müssen diese Nacht noch fertig werden. Schließlich zieht das Steinvolk zu Neujahr immer um.“

      Erneut nickte Emil Siegfriedsson. Erst dann fielen ihm die unzähligen Kerzen auf, die bis weit in die Dunkelheit reichten und alle zur Mauer führten. Durch das grelle Licht der Baustrahler hatte er sie erst gar nicht wahrgenommen. Kerzen zu Neujahr aufzustellen war eine Tradition der Eisländer. Damit wollten sie den versteckten Leuten bei der Suche nach einer neuen Bleibe in der Dunkelheit helfen.

      „Aha. Dankeschön für die Auskunft.“ Sprach Emil Siegfriedsson und verabschiedete sich beim Bauarbeiter. Er wandte sich um, ging zu seinem Auto und dachte darüber nach, was er von der ganzen Angelegenheit halten sollte. Dabei bekam er nicht mehr mit wie ihm der Bauarbeiter einen argwöhnischen Blick hinterher warf. Denn jener hatte einst die Anweisung erhalten ja nicht zu viel Aufsehen um den Bau der Mauer zu verbreiten und bloß nicht zu viel Auskunft zu geben.

      Als Emil Siegfriedsson an seinem Ferienhaus ankam, hatte es aufgehört zu regnen und die Sterne strahlten von einem wolkenfreien Himmel auf die Erde herab. Er ging durch das nasse Moos über die Terrasse nach drinnen ins Haus und wunderte sich darüber, dass es immer noch keinen Schnee gegeben hatte. Im Wohnzimmer angekommen, holte er eine Kerze aus dem Schrank und packte eine Packung Streichhölzer in seine Hosentasche. Anschließend begab er sich wieder auf den Weg nach draußen.

      Mitten auf der unebenen Wiese vor seinem Hof befand sich ein mittelgroßer, grauer Stein. Er war mit einer bunt bemalten Tür verziert. Emil Siegfriedsson kniete nieder und zündete ein Streichholz an. Jetzt war auch er schwerfällig. Es würde ihn traurig stimmen, wenn das Steinvolk aus seinem Vorgarten verschwände. Doch für den Fall der Fälle wollte er ihnen nicht im Wege stehen. Es ist nämlich besser im Umgang mit den versteckten Leuten nicht das Kriegsbeil auszugraben, da sie einem sonst das Leben schwer machen konnten. Und so brachte der alte Mann die Kerze zum Brennen.

      Just in jenem Moment flackerten am Himmel grüne Lichterschwaden auf und vollzogen Tänze, in denen sie sich zu wabernden Wolken verbanden um dann wieder in nebulöse Formen überzugehen. Polarlichter. Emil Siegfriedsson zog seine dickste Daunenjacke an und schlüpfte in seinen Schlafsack um die Milleniumsnacht mit diesem natürlichen Feuerwerk zu feiern. Er schlummerte kurz vor der Jahrtausendwende ins Reich der Träume ein.

      Ein eisiger Schauer der Kälte durchzog Emil Siegfriedsson. Er schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit. Mit einem lauten Gähnen und weit aufgerissenem Mund versuchte er zu sich zu kommen. Er schaute auf seine Zeigeruhr. Es war Punkt zwölf. „Genau richtig zum neuen Jahr.“ Dachte er sich. Er blickte in die Ferne, doch konnte er das Feuerwerk von Rauchbucht nicht sehen.

      Also ging er ins Haus um sich einen heißen Tee zu brühen. Der Anrufbeantworter seines selbstgebauten Telefons blinkte und zeigte verpasste Anrufe an. Langsam trottete er dem Gerät entgegen und drückte auf die Abspieltaste um sich die Neujahrswünsche anzuhören.

      „Emil bei uns ist es schon halb zehn und es wird nicht hell. Es ist stockdunkle Nacht. Wie ist es bei dir?“

      „Emil in den Nachrichten verlieren Sie kein Wort zu der Dunkelheit. Melde dich bitte bei mir!“

      „Emil, geht es dir gut? Du meldest dich ja gar nicht.“

      „Emil, langsam mache ich mir Sorgen um dich. Das ist doch sonst nicht deine Art. Oh mein Gott, was passiert hier nur?“

      Während der Anrufbeantworter noch weitere Nachrichten von seiner Schwester aus Borelien abspielte, verfiel Emil Siegfriedsson ins Grübeln. Er schaute auf seine Armbanduhr. Sollte es tatsächlich schon der erste Tag des neuen Jahres sein? Dann war es jetzt zwölf Uhr mittags und er hatte die Silvesternacht verschlafen.

      Emil Siegfriedsson marschierte zum Fenster und schob die Gardine ein Stück zur Seite. Auch wenn es im Winter auf Eisland nur wenige Sonnenstunden gab, gab es sie doch. Und jetzt, wenn es Mittag war, hätte es zumindest ein bisschen hell sein müssen. Emil Siegfriedsson wischte sich noch einmal mit der Faust den Schlaf aus den Augen. Doch an der Dunkelheit änderte es nichts. Es war und blieb auch auf Eisland dunkel.

      Kapitel 2

      Neujahr und vor wenigen Jahren,

      Borelien

      Auch in Borelien blieb es am ersten Tag des neuen Jahres dunkel. Robinia lag in ihrem Bett und gähnte laut und streckte alle Gliedmaßen weit von sich. Danach stapfte das fünfzehnjährige Mädchen mit ihren Füßen in die Latschen und machte sich auf den Weg in die große Wohnraumküche.

      Dort rannte ihre Großmutter hektisch mit dem Telefon am Ohr durch das Zimmer, wobei die Telefonschnur ihr nur einen kleinen Bewegungsradius zuließ.

      Jenes Telefon hatte sie einst von ihrem findigen Bruder