„Vermutlich hast du recht. Ich finde den Gedanken, dass du hier bleibst, nur etwas befremdlich.“
„Befremdlich im negativen Sinne?“
„Ich bin mir nicht sicher.“ Ich zog mein Handy aus der Tasche meiner Strickjacke. „Vielleicht sollten wir gleich mal nachschauen, wo in der Nähe für heute Nacht noch was frei ist.“
„Jetzt gleich?“ Er schien enttäuscht. Hatte er sich etwa doch Hoffnungen auf das zweite Schlafzimmer des Hauses gemacht?
„Du hast recht.“ Ich steckte das Handy zurück. „Das wäre wohl übereilt. Vielleicht fährst du ja doch nach Hause zurück. So weit ist es ja nicht.“
„Ja, vielleicht.“
Diese Äußerung schien ihn noch mehr zu enttäuschen.
„Vielleicht denken wir aber auch einfach nicht weiter darüber nach“, sagte ich schließlich. „Immerhin ist es erst halb drei.“
„Gute Idee.“ Unvermittelt setzte er sich neben mich auf die Treppenstufe. „Lass uns stattdessen lieber über die Tracks reden.“
„Die Tracks“, murmelte ich verwirrt.
„Wenn du mich fragst, hat besonders die siebte Nummer großes Potenzial für eine Auskopplung. Da sollten wir ein Thema wählen, das so richtig knallt. Eins, das besonders viele Leute anspricht. Vielleicht wieder so ‘ne Sehnsuchtsnummer, oder irgendwas mit der Erfüllung von Träumen. Du weißt schon: Herz, Seele, sich selbst wiederfinden und so.“
Er saß so dicht neben mir, dass sich unsere Schultern berührten. Eine Gänsehaut überkam mich. Ob meine Wangen rot anliefen?
Instinktiv sprang ich auf. „Vergiss deinen roten Faden nicht. Ich muss nur mal eben nach oben, mir ‘nen Schwung kaltes Wasser ins Gesicht werfen und eine Kopfschmerztablette nehmen.“
„Geht’s dir nicht gut?“
„Ach, nur der Wetterumschwung. Da bin ich immer besonders anfällig. Wenn ich nicht rechtzeitig eine Tablette nehme, kannst du mich für den Rest des Tages vergessen. Ich bin in zwei Minuten wieder da.“
Im Badezimmer angekommen, drehte ich den Wasserhahn auf und spritzte mir eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Allerdings waren es keine Kopfschmerzen, die ich vertreiben wollte. Vielmehr galt es, einen kühlen Kopf zu bekommen. Wann hatte ich das letzte Mal so dicht neben ihm gesessen? So vertraulich mit ihm gesprochen?
In Dublin. Ja, natürlich.
Bilder einer vergangenen Zeit wurden wach. Einer Zeit, die mit Piets Auftauchen plötzlich nur noch einen Wimpernschlag entfernt schien.
Ich presste das Handtuch gegen mein feuchtes Gesicht und musterte mich skeptisch im Spiegel. Wie sollte ich den Rest des Tages in seiner Nähe verbringen, ohne den Kopf zu verlieren? Und vor allem: Was würde geschehen, wenn ich den Kopf verlor?
Gerade als ich darüber nachdachte, wieder nach unten zu gehen, suchten mich unbekannte Worte heim.
Eine Stimme. Diesmal war es jedoch keine fremde.
Abstand. Immer dieser verfluchte Abstand. Warum muss sie es uns so schwer machen? Hat sie denn noch immer nicht begriffen, dass sie die Einzige ist, die ich will? Warum versteht sie nicht, dass meine Entscheidung von damals nicht das Geringste mit meinen Gefühlen für sie zu tun hat?
Wie erstarrt ließ ich das Handtuch fallen. Piet. Kein Zweifel, es war seine Stimme.
Die mittlerweile dritte Stimme, die sich seit dem ersten Betreten des Hauses in mein Unterbewusstsein geschlichen hatte. Oder war es bereits die vierte?
Langsam überkam mich eine Ahnung.
Mella. Die Frau, von der Celine erzählt hatte, und deren Eintrag ich auch im Gästebuch gefunden hatte. Der Mann, der über ebendiese Mella nachgedacht hatte. Möglicherweise der Ehemann, von dem sie sich nach dem Urlaub getrennt hatte? Dann die männliche Stimme, die den Betrug an Celine bereute und zweifellos Udo gehörte. Hatte Celine nicht erzählt, dass sie hin und wieder ein romantisches Wochenende in dem Haus verbrachten?
Und jetzt Piet.
Jede der Verbindungen, egal ob über die fremden Worte in meinem Text oder durch das Hören der Stimmen, schien auf einen Menschen zurückzuführen zu sein, der das Haus in naher oder ferner Vergangenheit betreten hatte.
Ich ließ mich auf den kleinen Hocker neben der Waschmaschine fallen. Nicht nur, dass die Worte zu Menschen gehörten, die etwas mit dem Haus zu tun hatten, alle Gedanken schienen auch sehr emotional zu sein. Emotionen, die vor allem um eines kreisten: das Objekt ihrer Begierde.
Piet. Wenn ich das richtig gedeutet hatte, kreisten seine Emotionen ebenfalls um das Objekt seiner Begierde. Noch unglaublicher als die Erkenntnis, dass es eine Bindung zwischen mir und den Bewohnern des Hauses zu geben schien, war jedoch die Tatsache, dass ich selbst das Objekt seiner Begierde war.
Konnte das wirklich wahr sein?
Ich presste meine Handflächen auf das Gesicht. Wo war ich da nur hineingeraten? Warum passierte das ausgerechnet hier, in diesem kleinen unscheinbaren Häuschen am Meer?
Wie hatte Mella es genannt?
Das Luftblumenhaus.
Ich seufzte. Was hatte das alles für einen Sinn?
Von der Treppe aus hörte ich ein Geräusch, das wie ein Husten klang. Piet. Vermutlich saß er noch immer auf der Stufe und wartete darauf, dass ich zurückkam. Wie lange brauchte man, um eine Kopfschmerztablette zu nehmen?
Sicher hatte er meine Ausrede längst durchschaut.
Ich stand auf und schaute erneut in den Spiegel.
Was auch immer das alles zu bedeuten hatte, wie verrückt auch immer es war – im Grunde zählte nur eines: Er liebte mich. Noch immer. Und daran hatte scheinbar keiner meiner verzweifelten Versuche, ihn auf Abstand zu halten, etwas geändert.
*
Die Sekunden, die zwischen meinem Verlassen des Badezimmers und dem Erreichen der untersten Stufe verstrichen, schienen durch einen einzigen Atemzug miteinander verbunden. Fast kam es mir vor, als hielt ich die Luft an, um meinen Gedanken den Zugang zu meinem Herzen zu versperren.
Am Ende der Treppe sah ich ihn sitzen. In den Händen sein Handy, in das er irgendetwas eintippte und das er jedoch sofort wegsteckte, als er mich bemerkte.
Instinktiv stand er auf.
In seinen Augen lag eine Erwartung, die sich mit Vernunft nicht erklären ließ. Es schien, als spürte er, dass während meiner Abwesenheit etwas mit mir geschehen war.
Hat sie denn noch immer nicht begriffen, dass sie die Einzige ist, die ich will? Die Worte hatten sich wie ein Feuerzeichen in meinen Verstand gebrannt. Wie in Trance ließ ich die Stufen hinter mir. Unten angekommen, blieb ich schließlich regungslos vor ihm stehen.
Schweigend schauten wir uns an. Wusste er, was ich wusste? Ahnte er, dass ich verstand, was in ihm vorging?
Vielleicht war es gar nicht nötig, einen Einblick in sein Innerstes zu bekommen, denn in diesem kurzen Moment des Schweigens offenbarte er mir alles, was es zu wissen galt. Jede Frage wurde innerhalb von Sekunden überflüssig. Jeder Blick aufschlussreicher als alle Worte der Welt.
Er kam einen Schritt näher, hob die Hand, um auf halber Strecke mit fragendem Blick zu verharren. Intuitiv griff ich danach und führte sie an meine Wange. Eine Geste, die unmissverständlich klarmachte, dass es kein Zurück gab. Jede Angst, jeder Anflug von Vernunft und falschem Stolz verblasste augenblicklich.
„Tina“, sagte er so leise, dass ich nicht sicher war, ob er meinen Namen nur mit den Lippen geformt oder tatsächlich ausgesprochen hatte.
Ich lächelte. Das war er, der Moment, auf den ich gewartet hatte. Der Moment, den ich die ganze