Blutlegende. Sofi Mart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sofi Mart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847641858
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Sie lief gerade an einer großen Pfütze vorbei, als ein Wagen unachtsam vorbeiraste. Readwulf traute seinen Augen kaum. Sie sprang mit einem gewaltigen Satz zur Seite.

       Readwulfs Nackenhaare stellten sich auf. Er starrte sie sekundenlang wie versteinert an. „Was war das?“, zischte er. Wie hatte sie das gemacht? So sprang niemand, außer ihm!

       Bisher wusste er nur, dass sie eine ambitionierte Studentin war, attraktiv auf ihn wirkte und ihr Duft bei ihm einen berauschenden Effekt hatte. Als er sie damals auf der Tanzfläche zurückließ, wollte er jeder weiteren Konfrontation aus dem Weg gehen. Der Tag ihrer ersten Begegnung, erst in der U-Bahn und dann im Club, irrlichterte seitdem in seinem Kopf herum. Das sorgte bereits für jede Menge ungewohnter Fragen. Aber jetzt? Jetzt verstand er langsam. Sie konnte ähnlich gut springen wie er, und das war wirklich alles andere als normal. Readwulf verlangte es nach mehr Informationen, also startete er den Motor und fuhr langsam aus der Parklücke. Sie stand wütend gestikulierend mitten auf der Fahrbahn und fluchte dem Raser hinterher. Er ließ seinen Wagen aufheulen und bremste nur Zentimeter vor ihr scharf ab. Er wollte sie provozieren, ja herausfordern, und hoffte, so mehr über sie zu erfahren.

       Erst reagierte sie nicht wie erwartet, daher wiederholte er seinen Angriff noch zweimal, bevor sie blitzschnell auswich und weglief. Wie eine Wildkatze rannte sie ihm davon. Sie lief in ähnlicher Geschwindigkeit, wie er selbst laufen konnte. Natürlich war er etwas schneller, aber selbst mitanzusehen, wie unfassbar dynamisch diese Gangart auf andere wirken musste, war faszinierend für ihn. Plötzlich kam sie ins Straucheln und fiel. Readwulf bemerkte erst jetzt, wie gebannt und nah er ihr auf den Fersen war. Er bremste stark ab, behielt aber die Kontrolle über seinen Wagen und bog rechts vor ihr in eine Seitenstraße ab. Berauscht über die Geschehnisse und neuen Erkenntnisse folgte er der Straßenführung. Sein Kopf arbeitete schnell, sein Puls war beschleunigt und seine Hände umklammerten krampfhaft das Lenkrad.

      Der einzig klare Gedanke war: Ich bin nicht der Einzige. Es gibt noch andere, die so sind…wie ich!

       ***

      Versteinert kauerte ich auf dem kalten, nassen Asphalt. Ich versuchte, meine Glieder zu spüren und die Oberhand über meinen erstarrten Körper zu bekommen. Der Schock saß tief. Wollte der mich umbringen? Wieso passierte mir das? Ich stand schwankend auf. Mein Knie schmerzte fürchterlich und doch humpelte ich weiter nach Hause.

      Daheim angekommen verarztete ich mich gerade selbst im Bad, als Cloé meine Not bemerkte. Wie eine gelernte Krankenschwester kümmerte sie sich aufopfernd um meine Wunde.

      »Ich glaube, das ist geprellt. Wenn du Pech hast, ist ein Band gerissen«, bemerkte sie, als sie weiterfragend mein Bein untersuchte. »Wie siehst du eigentlich aus? Was ist denn überhaupt passiert?«

      Ich reagierte nicht.

      Sie legte mir einen sehr professionellen Verband an und holte einen Kühlakku aus der Küche.

      »Nun sag schon!«, drängte sie erneut.

      »Jemand hat mich verfolgt und fast überfahren. Ich bin weggerannt, aber dann gestolpert und mitten auf der Straße liegen geblieben. Ich dachte schon, das war es jetzt, aber der Wagen ist plötzlich abgebogen und verschwand.«

      Stumm sah sie mir wachsam in die Augen, daher fügte ich noch hinzu: »Ich hab mir das nicht eingebildet, wirklich nicht!«

      Zu meinem Leidwesen ging Cloé wieder einmal nicht auf mich ein. Im Gegenteil, wie aus dem Nichts kam: »Und was war nun mit deinem Schüssel? Wie bist du um Himmelswillen durch die verschlossene Wohnungstür gekommen?«

      »Ähm…ich…« Überrumpelt von diesem plötzlichen Angriff fiel mir meine geniale Idee mit dem Zweitschlüssel im Blumenkasten wieder ein. Ich wollte nicht mehr lügen, das hatte ich so satt. Zu gern hätte ich Cloé in diesem Augenblick alles über mich erzählt. Von der Verfolgungsjagd vom Club nach Hause, dass mir allmählich Wirklichkeit und Wahnvorstellungen nicht mehr unterscheiden konnte. Ich hätte auch nicht ausgelassen, dass ich besonders schnell laufen konnte und meine Sprungkünste enorm waren. Dass ich für alles selbst keine Erklärung hatte und damit schon seit immer leben musste, ohne Informationen zu bekommen. Dad sprach ja nicht mit mir und Mom war tot. Wen hätte ich also fragen sollen? Für medizinische Untersuchungen fehlte mir bisher der Mut. Ich verspürte große Angst, am Ende als Versuchskaninchen im Labor zu enden. Insgeheim war der Job bei Dr. Nail die Hoffnung, endlich Antworten zu finden, die mir meine anormale Existenz erklären würden.

      All das verkniff ich mir. Wie hätte ich begreiflich machen können, was ich selbst nicht verstand?

      Cloé war mit der Zweitschlüsselerklärung scheinbar zufrieden, griff mir jedoch wieder temperaturfühlend an die Stirn.

      »Ich hab nichts!«

      Sie fragte nicht weiter nach, ging aber auch nicht auf meine Unfallgeschichte von heute Nacht ein. Sie schaute mich nur wieder studierend an. Dann erklärte sie cool: »Kommst du jetzt allein zu Recht? Ich bin ziemlich müde und würde mich gern in mein Zimmer zurückziehen!« Ihr Verhalten war sehr seltsam und prompt hatte ich den Eindruck, dass sie mir doch nicht glaubte.

      »Alles okay, ich gehe auch gleich schlafen. Gute Nacht...und hey, danke noch mal!«

      Sie verschwand in ihrem Zimmer.

      Am nächsten Tag kam ich bereits mittags von der Uni heim. Zwei meiner Kurse waren ausgefallen. Cloé war noch nicht zu Hause. Das Laufen fiel mir nicht mehr schwer. Ja, ich merkte kaum noch etwas von meinem Sturz. Trotzdem wollte ich noch einmal den Verband wechseln und nach der Wunde schauen. Als ich im Badezimmer die Kompresse entfernte und vom Schorf nur noch eine kleine rote Stelle zu sehen war, lies ich den Mull fallen. »Das gibt es doch nicht!«, stotterte ich. Ich hatte das Gefühl, meine Fähigkeiten würden sich in letzter Zeit deutlich verstärken. Dass jetzt aber noch etwas Neues hinzu kam, ließ mich erschaudern, und ein wenig Angst kam in mir auf.

       Ich will das nicht mehr! Wann hört das endlich auf? Hört das überhaupt jemals auf?

      Gut! Zugegeben, schneller heilende Wunden waren nicht das Schlechteste, aber wieder so ein Wunder, das ich vor allen anderen verbergen musste. Ungläubig schaute ich auf den blassen Fleck an meinem Knie, da kam mir ein anderer Gedanke. Vielleicht war das alles nur meiner Einfälligkeit entsprungen? Vielleicht wies das auf einen ersten schizophrenen Schub hin und ich schaute bereits tief in den schwarzen Abgrund der geistigen Umnachtung?

      Durcheinander und selbstmitleidig ging ich in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Ruhe und ein wenig die Augen zu schließen, war alles was ich wollte.

      »Alles wird gut, Jules«, raunte ich im Halbschlaf. Dann entschwand ich ins Land der Träume.

      Ich fantasierte bereits seit einigen Nächten von der seltsamen Lichtung, von dem faszinierenden Mann. Erneut trafen wir uns im Wald. Er war in Schwarz und ich in Grün gekleidet. Alles war so klar erkennbar, nur sein Gesicht nicht.

      Diesmal teilte eine schier endlos hohe Mauer aus dicken Glasbausteinen die Lichtung in zwei Hälften. Er stand auf der einen, ich auf der anderen Seite. Mit den Fingerkuppen berührte ich die Wand. Sie war kalt und glatt. Er tat es mir gleich und dann kratzte er mit dem Nagel über die eisige Fläche.

      Instinktiv presste ich die Hände auf meine Ohren, als mir klar wurde, wie still es hier war. Außer einem dumpfen Hallen erreichte mich kein Laut.

      Er gestikulierte mit den Händen und deutete nach oben. Ich schüttelte den Kopf, denn ich verstand nicht was er mir sagen wollte. Einen Schritt trat er nach vorn, ganz nah an die Mauer und legte seinen Handrücken auf. Als seine Fingernägel sich zu spitzen Krallen verformten traute ich meinen Augen nicht. Gefesselt starrte ich ihn an. Er nickte mir zu und da begriff ich. Ich hob die Hände und wartete darauf, dass auch meine Nägel sich verändern würden. Nichts passierte!

      Er schüttelte den Kopf, sein Zeigefinger legte sich auf seine Schläfe und verweilte dort. Dann nickte er.

      Ich versuchte es erneut und schloss dabei die Augen. Die Vorstellung von wachsenden Nägel erschien mir jedoch