In den nächsten beiden Wochen kreisen meine Gedanken immer wieder um Ron, aber mit der Zeit bekomme ich das in den Griff, denke ich mir wieder und wieder.
Tomas Kett, Geschäftsführer und mein direkter Vorgesetzter bei Sommers-Hall ist zufrieden mit dem Ergebnis aus dem Meeting in Brüssel.
Gerade bin ich auf meiner neuesten Errungenschaft krassen Highheel Pumps „SHEYLA“ von Kennel and Schmenger in einer sensationellen Stone Ausgabe, dazu engen schwarzen Jeans und einem wuchtigen, kuscheligen perlmuttfarbenen Pulli zu Tomas‘ Büro unterwegs. „Herein!“, nehme ich Tomas wahr, als ich an seiner Türe klopfe. Rasch schiebe ich mich durch dieselbe. In einer Unordnung sondergleichen erblicke auch schon Tomas, wie immer an seinem großen Schreibtisch mit hunderten von Zetteln. Manche gestapelt, manche durcheinander, viele aber lose. Jedesmal denke ich mir, ob sich an diesem Durcheinander wohl je etwas ändert oder ob dieser Papierhaufen immer gleich bleibt? „Hi, Tomas, du hast nach mir gefragt?“ „Gut, dass du da bist, Angie, ja! Dein Meeting war erfolgreich – super. Deine Eindrücke?“ Tomas ist kurz und knapp, da sind wir auf einer Welle, wir verstehen uns gut – meine Eindrücke?
Ein kurzes Ziehen im Unterleib. Ich besinne mich auf ein paar Fragen von Ron, die ich Tomas schildere. „Was hast du getragen, Highheels sind klar – wirklich Jeans?“, neugierig will sich Tomas ein Bild machen. „Tomas, du weißt doch, dass mich in Brüssel schon so viele kennen, die erwarten von mir, dass ich anders gestylt bin und nicht im Kostümchen komme“, versuche ich zunächst Tomas den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Peter tritt mit einem kurzen, kaum hörbaren Anklopfen zur Tür herein. „Hi, Tomas. Hi, Angie.“ Ich fahre fort: „Ich trug eine weiße Bluse und Bluejeans, glamourös genug.“ Tomas und Peter schmunzeln sich an. Ich verstehe nicht und erkundige mich: „Darf ich mitspielen, was ist los?“ „Du warst sehr beeindruckend, so die Stimmen, die mich aus Brüssel erreicht haben“ und Tomas lächelt wieder. Da ist doch noch was, versuche ich die Szene zu begreifen. Sogleich fährt Tomas fort und lüftet sein kleines Geheimnis: „Ron Kern dürfte dein Auftreten gefallen haben, es hat ihn aber abgelenkt, so scheint es. Du sollst nochmals speziell zu ION nächste Woche. Kern hat anscheinend Blut geleckt, er hat noch einen anderen Investor, einen aus Übersee. Angie, das könnte es sein, weißt du, was das heißt?“ In mir brodelt Aufregung, ich dachte schon ich habe etwas übertrieben. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Noch einmal bringt Tomas enthusiastisch seine Begeisterung zum Ausdruck: „Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?“ „Überstunden für mich. Tolle Geschäftsreisen für Angie“, so bringt Peter die Antwort auf den Punkt.
„Klasse Angie, das könnte für Sommers-Hall viel Geld bedeuten. Ich habe den Vorstand informiert, ich werde eine satte Provision für dich rausverhandeln, wenn du Kern rumkriegst“, hält mir Tomas voller Entzücken vor. Plötzlich schnürt sich mein Hals zu, meine Hände sind eiskalt, wo ist mein Blut? „Oh, das hab ich dann gut gemacht?“, wispere ich und klinge dabei wie ein Schulmädchen, langsam bekomme ich wieder Luft. „Wann soll’s losgehen? Ich habe Familie, Tomas, ich kann nicht von heute auf morgen, du weißt das.“
„Angie, es gibt Dinge, da hat man nur einmal die Chance, ich denke, das ist so ein Ding für Sommers-Hall mit Kern, du wirst uns doch nicht im Stich lassen? Die Spesenabteilung übernimmt bestimmt den Babysitter.“ Babysitter? Ich will keinen Babysitter, das sind meine Kinder, will ich mich verteidigen. Ich will Karriere ja, aber ich will auch Mutter sein und was heißt da „Ding…mit Kern“? Ich bin völlig verwirrt, was da gerade passiert, muss aber zugeben, dass ich mich dennoch auch freue. Worüber, da bin ich mir noch nicht so klar.
„In zwei Tagen fliegst du nach Wien, ION hat dort einen seiner Hauptsitze, wie auch die Russen, die von Kern beraten werden. Dort befindet sich auch der Sitz des größten österreichischen Speichers, sie alle sind dabei. Ob Pretty Palfoux, die Investmentfirma aus Übersee, kommt, weiß ich nicht, aber ich will den Termin mit den deutschen, den russischen und den österreichischen Interessenten nicht platzen lassen. Also hier sind die Tickets, samt Hotel. Hilton hat der Vorstand buchen lassen – wow, das nenne ich mal Spesen, wir müssen protzen mit dem Projekt. Verstehst du Angie, nicht kleckern – protzen – schaffst du das?“
Tomas wirkt klein hinter seinem Schreibtisch, er steht auf, als er mich das fragt und stützt seine Hände auf den Tisch. Sein Übergewicht wurde über Weihnachten mehr, das sehe ich erst jetzt. „Peter, Angie braucht eine 3D-Animation, Unterlagen, die ausgezeichnet aufbereitet sind, für jeden der Interessenten will ich eine eigene CD, Stick oder etwas in die Richtung und ein supergeiles Prospekt mit allen notwendigen Informationen und Tabellen haben, bis Freitag früh. Angies Flug geht um sieben.“ Peter nickt nur. „Tomas, ich muss schauen, dass ich wen über das Wochenende bekomme, Aaron hat am Samstag sein Fußballtraining, da bin immer ich dabei.“ Tomas, er ist kleiner als ich in meinen Highheels, blickt mit einem stechenden Blick nach oben. „Ich krieg‘s hin“, klingt rasch meine Karriere-orientierte Antwort und ich verlasse sein Büro.
Was mach ich nur? Der Gedanke begleitet mich. Es ist echt nicht leicht, die Dinge unter einen Hut zu bringen. Karriere will ich, keine Frage, danach habe ich ja mein Leben lang gestrebt. Doch ich habe Familie, meine Kinder, auch das ist ein Ziel in meinem Leben gewesen. Also?
Melissa unser „Kindermädchen“ für absolute Notfälle, denn wir haben weder Oma, noch Opa oder sonst irgendwelche Verwandten, die John und mich unterstützen könnten, ist noch in Kanada. Unsere Kinder haben wir bewusst nie irgendwem überlassen. Kurz stelle ich mir die Frage, ob Karriere für mich so eigentlich möglich ist?
Zurück an meinem Schreibtisch rufe ich John an. „Gott sei Dank kann ich dich erreichen“, haste ich ins Gespräch. „Ich muss nach Wien, schon übermorgen, Melissa ist nicht da…“ „Hi, Darling, ist wer gestorben?“, wirft John ein. „Nein, Entschuldigung…“, ich erkläre John, was ich soeben von Tomas erfahren habe. „Bleib mir kurz dran“, und dann ist John weg. Na super, denke ich mir. Ich warte. „Gebongt, flieg, ich bin zu Hause!“, kommt es plötzlich vom anderen Ende. Ich kann nicht glauben, was John da sagt, er hat selbst gerade im Labor für einen großen Pharmakonzern zu tun und das Labor kämpft ums Überleben. „Wirklich, das würdest du tun?“, ich bin wirklich gerührt und meine Augen verschwimmen. „Schatz, es sind doch unsere Kinder, ich schaff das mit den Kids, sie sind keine Babys mehr. Ich fahre Aaron zum Training, auch wenn ich Fußball nicht leiden kann. Versprochen, jetzt muss ich aber…“ „Toll, bye“, schon ist es wieder still. Mein Herz beruhigt sich nicht, tausend weitere Gedanken überwältigen mich. Peter klopft wie immer leise und kommt rein. „Hier“, sagt er und hält mir ein Kuvert hin. „Was ist das?“, nehme ich den Umschlag entgegen. „Tomas hat mich geschickt, du bist ja gleich weggewesen. Er weiß, wie schwer es für dich ist, das gibt‘s von der Spesenabteilung und jetzt kommt‘s: nicht für den Babysitter, sondern für dein Outfit. Dein Markenzeichen hätte mir mal einfallen müssen!“ Er grinst. „Angie, es ist Tomas sehr ernst. Ich glaube er hat jetzt massiv Druck vom Vorstand, weil die ja quasi bereits mit dem Abschluss eines Investments rechnen, obwohl wir erst Meldungen von Interessenten haben, die wir noch nicht einmal kennen. Du hast große Verantwortung. Tomas will dir einfach nur auf seine Art beistehen. Du bekommst die Unterlagen am Freitag vor Abflug, ich bringe sie dir persönlich am Flughafen vorbei.“ Peter verlässt auf seine Art, so wie er gekommen war, unauffällig mein Büro. Ich sinke in meinen Schreibtischstuhl zurück. Lehne meinen Kopf zurück und lasse meine Haare nach hinten fallen. Für einen kurzen Moment genieße ich – Erfolg?
Ich bin stolz auf mich. Neugierig öffne ich den Umschlag, darin ist ein kleiner Zettel mit einer unleserlichen Handschrift. Es ist die von Tomas, nach 5 Jahren an seiner Seite kann ich sie bereits ganz gut entziffern.
Angie, der Erfolg meines Projektes, das für mich wie mein eigenes Kind ist, liegt nun in deinen Händen. Du bist gut, in dem, was du tust, verdammt