Das Dossier. Wolfgang Voosen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Voosen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195391
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      Anschließend zog sie ihren Lidstrich nochmals nach und schminkte ihre Lippen. Gegen halb sieben verließ sie ihre Wohnung. Bis zur Kölner City brauchte sie von Rodenkir­chen aus mit dem Auto nur etwa zwanzig Minuten. Überpünktlich stieß sie im Vorraum der Oper auf ihre Freundin, die auch gerade eingetroffen war. Kirsten sah wie üblich hin­reißend aus in ihrem figurbetonten orangefarbenen Abendkleid, vorne hochgeschlossen, aber mit tiefem Rückendekolleté. Kleid, Handtasche und Schuhe waren farblich aufein­ander abgestimmt.

      „Todschick“, bewunderte Verena Kirstens Outfit. „Lass mich raten. Vero Moda?“

      „Treffer! Gerade vorgestern bei P&C erstanden. Eigentlich zu teuer, doch ich konnte es einfach nicht hängen lassen. Du siehst auch nicht gerade wie Aschenputtel aus!“

      „Ist aber nicht neu, ich habe es nach Pauls Tod schon einmal angehabt. Als wir zusam­men bei dem Presseempfang in Düsseldorf waren. Allerdings damals mit schwarzem Gürtel. Du erinnerst dich?“

      Kirstens Antwort ging im ersten Klingelzeichen unter. Zielstrebig steuerten sie auf die dritte Einlasstür im Parkett zu, wo Kirsten seit Jahren ihre zwei Abo-Stammplätze hatte, die sie - nach eigener Einschätzung leider allzu häufig - mit wechselnden Partnern nutz­te. Gelegentlich, so wie jetzt, profitierte dann auch Verena davon. Sie nahmen ihre Plät­ze ein. Unmittelbar vor dem Schließen der Türen zwängte sich noch ein schwergewichti­ges Paar an ihnen vorbei in Richtung Mittelplätze.

      „Typisch! Mir hätte bestimmt was gefehlt, wenn die beiden sich nicht wieder wie üblich als Letzte durch die Reihe gequetscht hätten“, raunte Kirsten Verena zu.

      Unmittelbar danach erlosch das Licht und die ersten Klänge der Ouvertüre setzten ein. Schon da ließ das Orchester erahnen, welch wundervolle Musik den Abend füllen sollte. Als der Vorhang sich öffnete, gab er den Blick frei auf ein kunstvoll gestaltetes Bühnen­bild: Im Vordergrund das steile Felsenufer der norwegischen Küste, an dem von hefti­gem Sturm umtost Dalands Schiff ankerte und die Matrosen geräuschvoll damit be­schäftigt waren, die Segel zu hissen und Taue auszuwerfen. Senta, der Holländer und vor allem Daland wurden in jeder Phase der Aufführung der vor wenigen Tagen in der Kölner Rundschau erschienenen positiven Kritik gerecht.

      Als im dritten Aufzug dann auch noch der Matrosenchor 'Steuermann, lass die Wacht' kraftvoll und stimmgewaltig sang, waren Kirsten und Verena total verzaubert. Länger als sonst dauerte dann auch der immer wieder aufbrausende Applaus des Publikums.

      Völlig ergriffen von der dem Thema angepassten, stürmischen Musik beschlossen sie, wie meistens nach einem Opernbesuch, noch auf ein Glas Wein zu 'Alfredo‘ zu gehen, dessen Restaurant in der Tunisstraße in unmittelbarer Nähe zum Opernhaus lag. Mit ita­lienischem Charme und offenen Armen von Alfredo persönlich begrüßt, bekamen sie ei­nen Zweiertisch direkt vor der kleinen Bar zugewiesen. Antonio, der Ober, nahm ihnen die Garderobe ab und hängte die Mäntel auf.

      „Wie üblich, ein Glas Vernaccia, Signora Kalund?“, wandte er sich an Kirsten, die hier häufiger Gast war.

      Noch bevor Kirsten antworten konnte, meinte Verena: „Lieber einen Gavi di Gavi! Lass uns doch zusammen einen halben Liter nehmen, das können wir gerade noch verant­worten.“ Kirsten stimmte zu und ergänzte: „Gut, Antonio. Also einen halben Liter und eine große Flasche Pellegrino.“

      „Si, Signora. Möchten die Damen auch noch eine Kleinigkeit essen? Vielleicht einen Tel­ler Antipasti? Sehr empfehlenswert die Römische Artischocke mit Tartar vom Branzino!“

      Das war verlockend und obwohl sie eigentlich nichts mehr essen wollten, konnten sie nicht gänzlich widerstehen.

      „Klingt gut, aber vielleicht lieber einen Salat?“, fragte Verena an Kirsten gewandt.

      „Wie wär´s mit einem Melonensalat mit frischen Langustinen?“, beeilte sich der Ober, eine Alternative anzubieten, „den könnten wir natürlich auch für Sie beide portionieren.“ Wie aus einem Munde stimmten sie zu.

      So ließen Verena und Kirsten den Abend hier ausklingen, sprachen über die gelungene Aufführung, schwärmten von Dalands wundervollem Bass und bedauerten, mit dem Auto unterwegs zu sein. Verena übernahm die Rechnung, froh, sich auf diese Weise bei Kirsten für die Einladung in die Oper revanchieren zu können. Gegen Mitternacht bra­chen sie auf. Am Kassenautomat der Opern-Garage verabschiedeten sie sich und fuh­ren in unterschiedlicher Richtung davon, Verena am Rhein entlang nach Weiß und Kirs­ten über die Aachener Straße nach Müngersdorf.

      6.

      Schon während der Fahrt nach Hause dachte Verena, beseelt von der kraftvollen Musik Wagners, die ihr noch im Ohr nachklang, an die vielen schönen Abende, die sie gemein­sam mit Paul in der Oper verbracht hatte. So hielt die Vergangenheit sie, auch als sie schon im Bett lag, lange in Spannung. Unruhig warf sie sich hin und her und konnte nicht einschlafen. Bilder und Gedanken durchfluteten ihr Hirn. Fragmente liebevoller Ge­dichte, die Paul ihr immer wieder geschrieben hatte, brannten sich ein:

       „Wie gerne hätt´ ich deinen Schlaf bewacht,

       wäre Hüter deines Traumes dir gewesen.“

      Gerade diese beiden Zeilen spukten ihr immer wieder im Kopf herum und ließen sie nicht los.

      Am nächsten Morgen wachte Verena, obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatte, bereits vor sechs auf. Sie fühlte sich wie gerädert und wusste genau, woran es lag. Es war die Erinnerung, die sie wieder einmal während der Nacht nicht hatte abstreifen kön­nen. Auch damals, wenn Paul und sie gelegentlich aus beruflichen Gründen getrennt waren, hatte sie sich oft einsam gefühlt. Aber das war eine mit Hoffnung gepaarte Ein­samkeit, die den Stempel vorübergehend trug und deshalb gut zu ertragen war. Wenn er dann wieder zurück kam aus irgendeiner fremden Stadt, zurück zu ihr, dann hatte er meistens eine kleine weiße Rose für sie und manchmal auch ein zärtliches Gedicht. Zwei Zeichen seiner Liebe. Warum es immer eine weiße Rose war, danach hatte sie nie gefragt. Sie ließ ihm dieses Geheimnis, glaubte aber, den wahren Grund zu kennen. Seine Achtung vor Menschen, die sich für andere ohne Rücksicht auf sich selbst ein­setzten. Sein besonderer Respekt galt Sophie Scholl, ihrer Unerbittlichkeit im Wider­stand gegen die Unmenschlichkeit. So symbolisierte die Farbe Weiß für Paul nicht nur die Unschuld, sondern auch die Liebe zu den Menschen. Mit Sophie Scholl fühlte er sich innerlich verbunden. Ihr ganzes Handeln entsprach seiner sich selbst auferlegten jour­nalistischen Maxime: Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. Der Wahrheit zum Sieg verhel­fen. Bedingungslos. Schonungslos.

      „Lag hierin die eigentliche Ursache für seinen Tod?“, fragte sie sich selbst. „Ist er zu dicht an die Hebel der Macht geraten? Hat jemand den Schalter umgelegt, bevor Paul mit seinen Informationen an die Öffentlichkeit gehen konnte?“ Wie oft schon hatte sie sich mit solchen oder ähnlichen Fragen herumgeplagt? Unzählige Male.

      Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie auf dem Hocker an ihrem kleinen Bistro-Tisch in der Küche saß, einen starken Kaffee trank und den 'Puls' las. Es klingel­te.

      Schon so spät, schoss es Verena durch den Kopf. Ein Blick auf die Küchenuhr räumte jeden Zweifel aus. Es war fünf nach zehn. Sie erhob sich und öffnete Heinz die Woh­nungstür.

      „Morgen, Püll. Irgendwie komme ich heute nicht richtig in die Gänge. Obwohl ich früh wach war, hab ich die Zeit vertrödelt.“

      „Was ist denn mit dir los, du siehst ja schrecklich aus!“

      „Vielen Dank, du hast wirklich eine beneidenswerte Gabe, Komplimente zu machen“, lachte sie und es klang eher amüsiert.

      „Pardon, aber du weißt genau, wie ich das meine. Mal im Ernst: War´s mit Kirsten ein längerer Abend als geplant? Oder hieß Kirsten gar nicht Kirsten?“

      „Gleich werde ich sauer, Püll.“ Jetzt klang Verena leicht gereizt. „Du weißt genau, dass da im Moment nichts läuft. Das ist alles noch zu frisch, als dass ich bereit wäre für eine neue Beziehung. Nicht umsonst will ich mit deiner Hilfe die mysteriöse Geschichte um Pauls