Das Dossier. Wolfgang Voosen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Voosen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195391
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bei einem Suizid.“

      Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, hätte er sich am liebsten auf die Lippen gebis­sen. Aber Verena überging seine offensichtliche Verlegenheit.

      „Doch, sie zahlt, oder richtiger gesagt, sie hat schon gezahlt. Für die Versicherung stellt sich die Frage nach der Selbsttötung nur, wenn der Versicherte innerhalb von drei Jah­ren nach Vertragsschluss stirbt. Dann kommt so eine Ausschlussklausel zum Tragen. Aber Paul hatte die Versicherung vor Jahren abgeschlossen, schon bevor wir uns kann­ten. Nur das Bezugsrecht hatte er geändert, als wir zusammenzogen.“

      „Okay. Wahrscheinlich ist es wirklich besser, wenn du unbezahlten Urlaub nimmst, sonst gibt es vielleicht Gerede in der Redaktion. Aber wenn du Hilfe brauchst, sag Be­scheid. Ich bin für dich genauso da, wie ich es auch für Paul immer war.“

      Nun war der Punkt erreicht, an dem Verena wusste, dass sie so schnell wie möglich raus musste, raus an die frische Luft. Noch ein paar Sätze zwischen ihnen und sie hätte Rotz und Wasser geheult. Also umarmte sie ihn flüchtig, drückte ihm einen angedeute­ten Kuss auf seine bärtige Wange, verließ wortlos sein Büro, hastete an seiner Sekretä­rin vorbei und eilte, weder nach links noch nach rechts blickend, auf den Ausgang der Redaktion zu. Scheinbar orientierungslos blieb sie, nachdem sie die Drehtür passiert hatte, auf dem Gehweg stehen. Sie schaute hinauf in den Himmel. Zerrissene weiße Wolken jagten über ein frisches Blau. Tief sog Verena die inzwischen vom heftigen Ge­witterregen gereinigte Luft in ihre Lungen ein.

      2.

      Auf dem Weg zu ihrem Corsa überlegte sie, was sie als nächstes in Angriff nehmen wollte. Noch auf dem Parkplatz rief sie Kirsten an, um ihr von der neuesten Entwicklung zu berichten. Doch Kirsten war in Hektik und so stimmte sie ihrem Vorschlag, sich am Nachmittag so gegen halb fünf im Café Eigel zu treffen, sofort zu, denn sie wollte ohne­hin noch ein paar Kosmetika bei Douglas besorgen. Der Termin passte ihr gut. So konn­te sie noch schnell bei Püll vorbeifahren, um mit ihm die nächsten Schritte zu bespre­chen. Sie durfte keine Zeit verlieren. Schon Ende des Jahres würde er in Pension gehen und dann nur eingeschränkt an Informationen kommen, über die er zurzeit noch verfüg­te.

      Deshalb rief sie, nachdem sie bereits vom Parkplatz in die Amsterdamer Straße, an der sich das Verlagshaus befand, eingebogen war, im Polizeipräsidium an. Wie immer tele­fonierte sie mit schlechtem Gewissen. Nie hatte sie bisher Zeit gefunden, sich endlich die Freisprechanlage in ihren gebraucht gekauften Wagen, den sie inzwischen auch schon über ein halbes Jahr fuhr, einbauen zu lassen. Aber in den nächsten Tagen wollte sie das unbedingt nachholen.

      „Sander, Polizeipräsidium, KK 14“, hörte sie Pülls markante Stimme, die so gar nicht zu seinem Äußeren passte, das eher auf einen gemütlichen Beamten schließen und nicht erahnen ließ, wie sehr er sich in seine Fälle verbeißen konnte.

      „Hier Verena, Tag Püll“, meldete sie sich und kam dann gleich auf den Punkt.

      „Können wir bei euch in der Kantine zusammen essen, oder passt es dir nicht?“

      „Doch, kein Problem. Was hast du denn auf dem Herzen?“, wollte er wissen, denn im­mer, wenn sie sich so spontan meldete, drückte sie irgendwo der Schuh.

      „Ich habe mit Mannomann gesprochen. Er hat viel Verständnis gezeigt, dass ich mit mir noch nicht im Reinen bin und einmal mehr unbezahlten Urlaub nehmen will, um die Sa­che mit Paul endgültig zu klären. Bist du dabei?“

      „Das weißt du doch. Natürlich helfe ich dir im Rahmen meiner Möglichkeiten. Aber lass uns das nachher im Einzelnen beim Essen besprechen. Wann kannst du hier sein?“

      „Der Verkehr scheint nicht so stark zu sein. Bin schon fast an der Flora. Ich denke in knapp zehn Minuten werde ich bei dir sein“, sagte Verena und legte ihr Handy schnell auf den Beifahrersitz, weil sie im Rückspiegel ein Polizeiauto sah. Aber offensichtlich nahm niemand Notiz von ihr.

      Im Polizeipräsidium, das 2001 vom Waidmarkt zum Walter-Pauli-Ring in einen moder­nen sechsgeschossigen Neubau mit einem noch deutlich höheren Büroturm umquartiert worden war, fuhr sie auf einen der zahlreichen Besucherparkplätze. Vorbei an der örtli­chen Polizeiwache, die ebenfalls in dem beige-grünen Gebäude untergebracht war, ging sie auf die mächtigen gläsernen Eingangstüren zu, hinter denen sich links der Arbeits­platz des Pförtners befand.

      3.

      Verena zeigte ihren Presseausweis, obwohl der Pförtner sie gut kannte, und bat ihn, sie bei Herrn Sander anzumelden, bei dem sie einen Termin habe. Nach dem kurzen Tele­fonat wandte der Pförtner sich an Verena: „Sie können passieren. Er erwartet Sie. Den Weg kennen Sie ja.“

      Mit dem Fahrstuhl fuhr sie in die dritte Etage, ging links den Gang hinunter und klopfte an die Tür, neben der in Sichthöhe auf einem schon leicht vergilbten Schild‚ 'Sander, Hauptkommissar, KK 14, Raubdelikte‘ zu lesen war.

      „Herein“, drang seine Stimme deutlich hörbar durch die Tür, „herein, wenn´s kein Schneider ist.“

      Typischer Fall von Sippenhaft, dachte Verena bei sich, was kann das arme Schneider­lein für die Neugier seines Weibes? Immer wieder wurde sie bei Pülls häufig verwende­ter Floskel an die Kölner Heinzelmännchen erinnert. Mit diesem Gedanken trat sie ein.

      Wie so häufig hatte er auch heute einen Pullunder an. Gelbe und blaue Rauten auf dunklem Untergrund. Dazu trug er ein verwaschenes blassblaues Leinenhemd mit lan­gen Ärmeln und eine schon etwas abgewetzte anthrazitfarbene Stoffhose. Seit dem Tod seiner Frau sagte ihm niemand mehr, wann es Zeit war, sich nach einer neuen Hose umzusehen. Als Verena eintrat, stand er gerade an seinem Stehpult, das er sich vor zwei Jahren nach seiner Bandscheibenoperation nach langem Hickhack mit der Verwaltung ins Büro hatte stellen lassen. Vor ihm lag eine dicke, rote Akte, in der er offensichtlich gerade las. Auf der abgegriffenen Oberfläche prangte deutlich sichtbar der Aufdruck Staatsanwaltschaft Köln. Er blickte über die Ränder seiner Lesebrille, ging auf Verena zu und umarmte sie herzlich.

      „Na, da bist du ja endlich. Hat doch ein bisschen länger gedauert“, meinte er mit Blick auf die Uhr. „Jetzt sollten wir uns aber sputen, sonst bekommen wir nichts Gescheites mehr auf die Gabel und müssen auf Kaffee und Kuchen ausweichen.“

      Er nahm seine Schlüssel, sein Portemonnaie und verließ mit Verena das Zimmer. Sie fuhren ins Erdgeschoss, wo sich die Kantine unmittelbar rechts neben der Eingangshal­le befand.

      Mit ihren Tabletts und Bestecken bewaffnet gingen sie zur Essensausgabe. Er ent­schied sich für eines der beiden Stammessen, Schweinshaxe mit Kraut. Sie wählte für sich aus dem Freeflowbereich einen gebackenen Camembert mit Preiselbeeren und fri­schem Salat.

      Sonst war es zur Mittagszeit viel voller in der Kantine. So kurz vor Toresschluss aber waren sogar schon wieder einige Fensterplätze frei. Verena wählte einen kleinen Vierer-Tisch in der Ecke, von wo aus man die ganze Kantine überblicken konnte, die sich nach und nach fast völlig leerte. Heinz, der an der Essensausgabe noch hatte warten müs­sen, folgte ihr wenig später und nahm ihr gegenüber Platz.

      Müde sieht er aus, dachte Verena, als sie ihn betrachtete, während er Teller, Dessert­schälchen, Wasserglas, Serviette und Besteck auf dem Tablett sortierte, wie es seinem Ordnungssinn entsprach. Sein freundliches Gesicht mit den wachen, blauen Augen und der etwas zu groß geratenen Nase, war immer noch umkränzt von inzwischen leicht er­grauten, längeren Strähnen, die über die inzwischen sehr ausgeprägte Glatze gelegt waren. Zu der Kurzhaarfrisur, zu der sie ihm schon mehrfach geraten hatte, konnte er sich noch immer nicht entschließen.

      „Was schaust du so gedankenverloren?“, meinte er, als er Verenas Blick auf sich ruhen sah.

      „Ich finde, du siehst müde aus“, sagte sie frei heraus. „Freust du dich auf deinen Ruhe­stand?“

      „Also, dass ich müde aussehe, hängt mit dem gestrigen Abend zusammen. Zuerst habe ich den neuesten Grisham zu Ende gelesen und dann gab´s da im Fernsehen noch spät eine Wiederholung von