Das Dossier. Wolfgang Voosen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Voosen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195391
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      Sie brauchte jetzt unbedingt mal eine kurze Denkpause, um ihre Seele baumeln zu las­sen. Das konnte sie am besten morgens in aller Frühe, wenn die Heerscharen von Fuß­gängern und Radfahrern noch in ihren Betten lagen. Nur dann war ein flottes Tempo möglich und man konnte sich so richtig auspowern.

      Der Morgen strengte sich an, den Wetterfrosch bei Laune zu halten und der Vorhersage zu entsprechen: freundlich, aber auch empfindlich kühl. Leichter Tau lag auf den Grä­sern. Die Tropfen glänzten und spiegelten je nach Einfall der Sonnenstrahlen die ver­schiedenen Spektralfarben wider. Verena erfreute sich an diesem morgendlichen Schauspiel. Es erwärmte ihr Herz.

      Ganz allmählich entfaltete auch die Märzsonne ihre Kraft. So gesellte sich zu Verenas innerer Wärme die äußere hinzu. Mit langen nach außen gezogenen Schritten glitt sie in zügigem Tempo dahin, beschleunigte ihren Puls und hielt ihn gleichmäßig hoch.

      Wie üblich führte sie ihr Weg zuerst in Richtung Süden. Die direkt über dem Radweg ge­legene Terrasse des 'Biagini‘, von wo aus man einen wunderbaren Blick auf den Rhein und das gegenüber liegende Ufer hatte, war noch nicht für die ersten Frühlingstage her­gerichtet. Sie befand sich noch im Winterschlaf.

      Wie oft haben wir hier sonntagabends im Hochsommer, wenn die Essensgäste wieder abgezogen waren, noch ein Glas Pinot Grigio getrunken, dazu ein paar Brocken Pecori­no, schwarze Oliven und Ciabatta bestellt und die Stimmung der untergehenden Sonne in uns aufgesogen, dachte Verena. Das gab uns immer Kraft für die Hektik des Alltags, ließ Verena ihren Gedanken freien Lauf, während sie sich Godorf näherte.

      Als ihr bewusst wurde, dass sie den Kopf nach wie vor nicht frei bekam, drehte sie um, zumal der Wind ungünstig stand und so der Geruch abgefackelter Gase der 'Union Kraftstoff‘ in ihre Nase drang. Inzwischen waren auch die ersten Hundebesitzer unter­wegs, deren Hunde sie regelmäßig zwangen, das Tempo zu drosseln, wollte sie nicht einen unliebsamen Zusammenstoß mit einem Vierbeiner riskieren. So fuhr sie nur noch ein kleines Stück um das Rhein-Knie herum, bis sie die Rodenkirchener Autobahnbrü­cke sehen konnte, wendete erneut und war eine Viertelstunde später zurück in ihrer Wohnung. Sie stellte das Radio und die Kaffeemaschine an, duschte und frühstückte mit dem wohligen Gefühl, ihrem Körper etwas Gutes getan zu haben. Bis zum 'Presseclub‘ bleibt mir noch reichlich Zeit, dachte Verena und wandte sich den Unterlagen zu, die sie gestern Abend ganz gegen ihre Gewohnheit unsortiert auf dem Tisch hatte liegen las­sen.

      Aus dem Radio ertönte 'Wind of change‘, der Song, den Paul und sie zu ihrem Lied er­nannt hatten. Weil es genau in der Zeit von allen Sendern immer wieder gespielt worden war, als sie sich kennen und lieben lernten. Paul hatte damals für sie seine langjährige Beziehung zu Maria, einer Lektorin, beendet. In der ihm konsequenten Art. Verena hatte er um eine zweiwöchige Auszeit gebeten, um Maria offen und ehrlich - aber mit Zeit im Gepäck - zu sagen, dass ihre gemeinsame Zeit zu Ende ist, und er aus der Wohnung ausziehen wird.

      Danach wirkte Paul in den ersten Tagen sehr traurig und unkonzentriert. Häufig hing er seinen Gedanken nach. Aber seine Traurigkeit tat ihrer Liebe zu ihm keinen Abbruch. Im Gegenteil. Sie liebte ihn auch dafür, dass er sich nach seinem Auszug aus der Woh­nung noch um Maria sorgte. Zeigte er damit doch seine tiefe Empfindsamkeit. Seine Ge­fühle. Auch das Gefühl für Ungerechtigkeit. Er haderte mit sich und dass sein neues Glück zugleich Marias Unglück bedeuten musste. Erst als er darüber mit Verena an ei­nem sehr langen Abend gesprochen hatte, fiel die Trauer von ihm ab. Die anschließen­de Nacht, erinnerte sich Verena voller Wehmut, war eine Nacht voller Zärtlichkeit und der wahre Beginn ihrer unerschütterlichen, durch nichts und niemanden angreifbare Lie­be. Durch nichts? Doch durch den Tod, ergänzte sie ihren Gedankenflug in die zurück­liegende Zeit.

      Verena stellte resignierend fest, dass ihre sämtlichen Sinne nur einen kleinen Schubser brauchten, um in ihrem Inneren Erinnerungen an Paul wach zu rufen. So wie eben der Song im Radio. Meistens wurden die Assoziationen aber durch optische Wahrnehmun­gen hervorgerufen, die Bilder aus der Vergangenheit auf ihre Netzhaut warfen und sie in das Meer der Erinnerungen eintauchen ließen. Oder beim Riechen von Düften. Wie am letzten Wochenende bei ihren Eltern, als ihre Mutter ihr Lieblingsgericht 'Saltimbocca alla romana‘ auf den Tisch brachte und der typische Geruch des erwärmten Salbeis ihr ein paar Zeilen eines Gedichtes von Paul ins Gedächtnis rief, das er ihr wenige Wochen nach der Trennung von Maria geschrieben hatte:

       Die Tropfen des Regens höre ich fallen,

       nehme den Duft von Salbei wieder wahr,

       schmecke das Salz auf meinen Lippen

       und sehe die Farben der Sonne.

      Verena rief sich zur Raison. Was konnte sie besser ablenken als Arbeit. Also beschloss sie, alle neuen Aspekte, die sich gestern ergeben hatten, und die bisher nach Aktenlage bekannten Fakten zusammenzufassen. Sie klappte ihren Laptop auf und begann die einzelnen Punkte zu notieren, wobei sie versuchte, auch wenn es ihr schwerfiel, ihre subjektive Meinung völlig außer Acht zu lassen:

      1 Die Polizei hatte den Fall abgeschlossen. Paul war einer überwiegend in Osteuropa tätigen Autoschieberbande auf die Spur gekommen.

      1 Für seine Recherchen hatte er sich zunächst mit dem Verband der Sach­versicherer in Verbindung gesetzt, dann etliche Branchenführer in der Kraft­fahrtversicherung in München und Köln aufgesucht, um sich über die Grund­strukturen des internationalen Handels mit gestohlenen Nobelkarossen instru­ieren zu lassen (die Zusammenarbeit war geprägt von gegenseitigem Vertrau­en, weil die Autoversicherer sich durch die journalistischen Recherchen auch ihrerseits Vorteile in der Schadensbekämpfung versprachen). Es folgten meh­rere Auslandsreisen in die Tschechei, nach Polen und in die Ukraine. Als er ausreichend Material gesammelt hatte, war es zu Kontakten mit der in der Ukraine ansässigen Im- und Exportfirma 'International Car Trading' gekom­men, die ganz offiziell europäische Neuwagen aus Westeuropa importierte.

      2 In der Folgezeit waren die Verbindungen zum Verband und zu den Versi­cherern abgebrochen. Diesen Umstand wertete die Polizei als weiteres Indiz, dass Paul sich mit der Leitung des Unternehmens handelseinig geworden war. Zu gut Deutsch: Sie hatten ihn gekauft.

      1 Als ihm die Sache über den Kopf gewachsen war, hatte Paul sich mit ei­nem aufgesetzten Schuss aus seiner eigenen Waffe umgebracht. Schmauch­spuren ließen sich an seiner rechten Hand nachweisen und auch der Schuss­kanal sprach eindeutig für einen Suizid. Hinweise auf Fremdverschulden gab es nicht: Keine Kampfspuren, keine Druckverletzungen, keine Hämatome.

      2 In Pauls Laptop fand sich ein kurzer Bericht über seine Nachforschungen der letzten Monate und sein Schuldeingeständnis. Die erwähnten Orte, an de­nen er seine Recherchen durchgeführt und die Kontakte hergestellt hatte, stimmten mit den von der Polizei anhand seiner Kreditkarteneinsätze und sei­ner Handy-Telefonate erstellten Bewegungsprofilen überein. Namen von Per­sonen tauchten im Bericht mit der Erklärung, das Leben von Verena nicht ge­fährden zu wollen, nicht auf. Pauls Bericht endete mit dem Hinweis, dass sämtliche Aufzeichnungen durch ihn selbst vernichtet worden seien.

      1 Die äußerst gründliche Untersuchung des Rechners durch die Spurensi­cherung blieb erfolglos. Auch wieder sichtbar gemachte, gelöschte Dateien enthielten keine Hinweise auf weitere Recherche-Berichte. In einer kleinen Randnotiz der KTU war zwar vermerkt worden, dass dies allen empirischen Erfahrungswerten widerspräche und deshalb unbedingt nach weiteren, ggf. handschriftlichen oder auf CD gespeicherten Notizen gesucht werden müsse. Bei den weiteren Nachforschungen kam jedoch nichts zum Vorschein.

      Wieder und wieder las Verena sich das angebliche Schuldeingeständnis von Paul durch. Irgendetwas stimmte nicht. Der Stil und die gewählten Formulierungen entspra­chen zwar exakt dem, wie Paul zu schreiben pflegte. Alle Sätze waren kurz und präg­nant. Dennoch, etwas war anders.

      Sie schloss die Augen und ließ die Sätze noch einmal vor ihrem inneren Auge vorüber­ziehen. Es war, als vergliche sie Fragmente seiner ihr bekannten Texte mit dem vor ihr liegenden Schriftstück, indem sie die Texte wie Pauspapiere gedanklich übereinander legte.

      Und plötzlich