Das Dossier. Wolfgang Voosen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Voosen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195391
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noch von ihrem Vorhaben abzubringen.

      „Haben Sie sich das auch gut überlegt? Wollen Sie ihn wirklich jetzt sehen?“

      „Ja, unbedingt. Ich möchte ihn sehen. So schnell wie möglich.“

      „Soll ich vorher noch jemanden anrufen?“

      „Nein. Mein Chef und meine Kollegen wissen ja sicherlich Bescheid. Alles andere hat Zeit. Ich ziehe mir … ich ziehe mir nur noch rasch etwas Anderes an“, sagte Verena geistesabwesend, stand auf und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Sie tauschte ihre hellblaue, gemusterte Bluse und ihre Jeans gegen eine schwarze Hose und einen un­auffälligen schwarz-weißen Pullover. Nach nur wenigen Minuten erschien sie wieder im Flur.

      „Von mir aus können wir fahren“, sagte sie. Dem Kommissar erschien sie jetzt gefasster als zuvor, aber irgendwie auch mechanisch, als ob sie an den Fäden eines Marionetten­spielers hinge und ihr Handeln von ihm bestimmt werde.

      Alles war dann noch viel schlimmer, als Verena es sich während der etwa zwanzigminü­tigen Fahrt in die Redaktion vorgestellt hatte. Per Handy hatte Zimmerer sich erkundigt, ob der Tote noch in der Redaktion oder schon in der Pathologie sei. Es gab ihr einen weiteren Stich ins Herz, wie jemand in dieser anonymen Form von Paul sprach. Das war aber nur ein winziger Schmerz, verglichen mit dem, was sie in der Redaktion zu ertra­gen hatte. Noch bevor sie seine Ecke im Großraum erreichte, wurde sie zunächst am Eingang von ihrem Chef und ihren Kollegen in Empfang genommen, die untätig herum­standen und - jeder auf seine Art - ihr Beileid ausdrückten. Manche stumm mit einem Händedruck, andere nickten ihr nur zu. Einige fanden ein paar tröstende Worte. Allen war anzumerken, dass die Unmittelbarkeit des Todes sie hilflos machte. Es war etwas Anderes, über unbekannte Tote zu schreiben oder so plötzlich mit dem Tod eines Kolle­gen konfrontiert zu werden. Auch ihrem Chef, als Letztem in der Reihe, fehlten die Wor­te. Mit traurigen Augen nahm er Verena in den Arm, stumm und sichtlich bewegt. Dann gab er sie frei. Die letzten Schritte zu Pauls Schreibtisch ging sie allein. Auch Zimmerer blieb hinter ihr zurück.

      Das vom KK 63 angeforderte Team der KTU, zwei Frauen und vier Männer, hatte seine Arbeit offensichtlich noch nicht vollständig beendet. Reste des zur Sicherung von Fin­gerabdrücken verwendeten Magnabrush-Pulvers waren auf verschiedenen Flächen und Gegenständen zu erkennen. Kleine dreieckige Plastik-Pyramiden mit unterschiedlichen Zahlen standen auf dem Schreibtisch und auf dem Boden. Eine unhandlich wirkende Kamera mit etlichen dazugehörigen Utensilien lag vor einem mit Schaumgummi ausge­polsterten Koffer, in dem sich eine UV-Lampe samt Zubehör befand. Der Rechner, die Tastatur und etliche andere meist in Asservatenbeuteln verstaute Gegenstände waren allerdings schon zusammengepackt und zum Abtransport bereit. Unschlüssig standen die Männer und Frauen der Spurensicherung, die Köpfe noch mit Kapuzen bedeckt, in ihren gespenstisch anmutenden, halb durchsichtigen weißlichen Overalls um den Schreibtisch herum. Gerade wollten sie zu dritt Pauls Leiche in den geöffneten Zinksarg legen. Auf ein Zeichen von Zimmerer hin wichen sie zurück.

      Verena beugte sich zu Paul hinab. Mit beiden Händen umschloss sie seinen auf dem linken Arm liegenden Kopf. Dann streckte sie eine Hand aus und strich sachte mit den Fingern über das kleine, von getrocknetem Blut verklebte Einschussloch und die deut­lich erkennbaren Schmauchspuren an seiner rechten Schläfe. Seine Haut fühlte sich kalt an, wächsern. Sie starrte auf den leblosen Körper, versuchte ihn in Einklang zu brin­gen mit Paul, dem Mann, den sie liebte. Als sie einen lauten Schrei hörte, zuckte sie er­schreckt zurück. Sie sah sich um, verwirrt, und bevor sie noch erkannte, dass sie selbst es war, die schrie, wurde es schwarz um sie herum.

      Der direkt neben dem Schreibtisch stehende Polizeiarzt, der derartige Reaktionen kann­te, hatte Verena noch aufzufangen versucht. Vergeblich. So untersuchte er zunächst, ob der Sturz folgenlos geblieben war. Äußerliche Verletzungen waren nicht zu erkennen. Dennoch orderte er, nachdem er Verena in eine stabile Seitenlage gebracht und eine Decke unter ihren Kopf gelegt hatte, einen Krankenwagen. Der bereits wenige Minuten später eingetroffene Notarzt injizierte ihr nach kurzem Bericht durch den Polizeiarzt eine isotonische Kochsalzlösung, um ihren Kreislauf zu stabilisieren.

      Nach ihrer Einlieferung in das Krankenhaus war Verena gründlich untersucht worden. Zur weiteren Beobachtung hatte man sie anschließend vorsichtshalber über Nacht dort behalten. Gerade ihre nach außen hin gezeigte Selbstbeherrschung hatte schließlich den dann erfolgten totalen Nervenzusammenbruch noch begünstigt. So hatte sie sich fast willenlos dem Diktat der Ärzte gebeugt und war bis zum Morgen des nächsten Tages in der Klinik geblieben.

      Das Leben nahm wieder Besitz von ihr. Ihre Trauer war längst nicht vorbei, aber das tie­fe Loch, in das Verena nach Pauls Tod gefallen war, begann sich wieder zu füllen, lang­sam zwar, aber stetig. Ihre Energie, die alle bewundert hatten, ihr Optimismus und ihr unbändiger Lebenswille kehrten zurück. Sie hatte wieder eine Aufgabe: Sie konnte und wollte den Gerüchten nicht glauben, Paul sei korrupt gewesen und habe sich umge­bracht. Vor allem wollte sie darum kämpfen, seine Unschuld zu beweisen.

      Wie so oft in den letzten Monaten zogen die Bilder des ersten Zusammentreffens mit Paul, das nun schon fast zehn Jahre zurücklag, wie in einem Film an ihr vorüber. Erst­mals hatte Verena an einer Redaktionskonferenz des 'Puls' teilgenommen. Sie war auf­geregt, wie an ihrem ersten Tag in der Uni, als sie glaubte, die Welt läge ihr zu Füßen. Als sie glaubte, alle müssten sich zuraunen „Da kommt Verena, die mit dem Einser-Ab­itur“, als trüge sie die 1,1 wie ein Brandzeichen auf der Stirn. Wie ernüchternd war dann die Wirklichkeit. Nichts von alledem, was sie sich so vorgestellt hatte, trat ein. Keiner wartete auf sie. Jeder war in Eile. Selbst beim Mittagessen in der Mensa. Alle waren im Trott. Niemand hatte Zeit.

      An diesen ersten Tag in der Uni musste Verena jetzt denken, an dem sie abends voller Frust ihre Mutter angerufen, die Welt danach wie üblich viel besser ausgesehen hatte, und der nächste Tag zum wirklichen Beginn ihres erfolgreichen Germanistik-Studiums wurde.

      Immer war sie die Jüngste gewesen, im Abitur, im Examen und auch jetzt: Nie zuvor hatte der 'Puls' eine jüngere Hochschul-Absolventin als Reporterin eingestellt. Die meis­ten ihrer neuen Kollegen hatten sie deshalb für die angekündigte Praktikantin gehalten, zumal Verena, kaum ein Meter sechzig groß, mit ihrer Meg-Ryan-Frisur, ihrer kleinen Stupsnase und der eher knabenhaften Figur wie eine gerade dem Teenie-Alter entflohe­ne Zwanzigjährige aussah.

      Die Konferenz verlief dann auch nicht wie in den sonst eingefahrenen Gleisen. Erst hat­te Manfred Mann, der Chefredakteur - allgemein nur Mannomann genannt, wenn man über ihn sprach, oder Manni, wenn man mit ihm sprach - Verena als neue Reporterin vorgestellt. Wie nebenbei ließ er dann ein paar Worte über ihre Praktika in London beim 'Objectiv‘ und in Berlin beim 'Wirtschaftsforum‘ sowie über ihr Studium in Frankfurt und Hamburg fallen. Ein allgemeines Gemurmel war die Folge, das nach und nach in vielen Fragen mündete. Manfred ließ dem Frage-und-Antwort-Spiel freien Lauf und amüsierte sich im Stillen über seine Mitarbeiter. Verena gewann sofort den Eindruck, dass das ge­samte Team ehrliches Interesse an ihr zeigte, nachdem sich die offensichtliche Verwun­derung über ihr jugendliches Aussehen gelegt hatte. Besonders aber gefiel ihr, dass auch Paul Pulassen, von allen Reportern und Redakteuren im weiten Umkreis wegen seines ausgeprägten journalistischen Gespürs bei seinen Recherchen respektvoll nur Puls-Paul genannt, sich an sie wandte.

      „Dann hast du - wie selbstverständlich benutzte auch er das in der Redaktion übliche Du - doch sicherlich auch Jasper Kotten kennengelernt“, meinte Paul. Als sie zustimmend nickte, fuhr er fort: „Wir sind alte Kumpel, noch vom gemeinsamen Studium in Hamburg her. Dann schieß mal los, was macht die alte Socke?“

      Verena erinnerte sich nicht mehr daran, was sie ihm geantwortet hatte. Aber im Ge­dächtnis war ihr geblieben, als sei es gestern gewesen, dass sie sofort von seiner locke­ren, überhaupt nicht aufgesetzt wirkenden Art angetan war. Normalerweise sah sie sich, das war schon zum Ende ihrer Schulzeit so, ihr Gegenüber ganz genau an, wägte zu­nächst ab und war nie sofort Feuer und Flamme. Bei Paul aber war das anders. Er be­eindruckte sie vom ersten Moment an. Seine angenehme, tiefe, aber eher leise Stimme, die auch deshalb die Aufmerksamkeit der Anderen auf sich zog, sein freundliches, wet­tergebräuntes Gesicht mit den kleinen Lachfalten neben den Mundwinkeln und dem tie­fen Grübchen im Kinn, das sie unwillkürlich an Kirk Douglas erinnerte, und