Dirndlgate. Jan Schreiber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Schreiber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752918878
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ein Dirndl. Es hing an dem einzigen Schrank des Zimmers.

      „Immerhin sind wir in München“, überlegte sie. „Das Oktoberfest geht bald los.“

      Er nahm das Kleid vom Schrank und hielt es in Jessicas Richtung. „Also, ich könnte wetten, es hat genau deine Größe.“

      „Nein, nein, denk nicht mal dran.“

      „Im Club damals hast du innerhalb von zehn Minuten drei verschiedene Kleider angehabt. So schnell wie du konnte sich niemand von uns umziehen. Hast du das noch drauf?“

      „Bestimmt“, antwortete Jessica. „Aber ich zieh das Ding jetzt nicht an.“

      „Okay, okay“, antwortete Michael. Er schmunzelte, und in seinem Blick lag etwas wie: Schon gut, altes Mädchen, die besten Jahre … du weißt, wie der Spruch geht? Er drehte sich um und ging zur Toilette. Jessica hörte die Tür. Sie trat vor den Spiegel, drehte sich und betrachtete ihr seitliches Profil. Verdammt, hatte sie nicht gerade in der Show bewiesen, wie schlagfertig sie war? Sie wusste nicht so recht, wie sie Michaels Gesichtsausdruck deuten sollte. Oder fand er sie gar nicht mehr attraktiv? Konnte das sein? Hatte er damit nicht etwas mit Alexander gemeinsam? Sie brauchte Michaels Blick nicht, und sie war auch keine verklemmte Emanze, wie ihr alle weiszumachen versuchten. Was sie brauchte, war Alexander und sein Atem, der auf ihren Hals traf und sie umspülte wie eine Umarmung. Ja, wie lange schon nicht mehr? Viel zu lange.

      Das Warum tauchte auf, und genau darauf gab es keine Antwort. Momentan fühlte sie sich nicht vollständig, weder als Frau noch als Liebhaberin. Sie strich sich mit den Händen über den flachen Bauch und gab sich einen Ruck. Kurz drauf stieg sie aus der Hose und schob sie mit dem Fuß zur Seite. In null Komma nichts hatte sie sich die Bluse über den Kopf gestreift und war genauso schnell in das Dirndl gestiegen. Es hatte einen tiefen Ausschnitt, und mit einem Blick in den Spiegel sah Jessica: Ihr schwarzer BH schaute hervor. Nein, so ging es nicht. Sie öffnete kurzerhand den BH und warf ihn zur Hose.

      Plötzlich summte ihr Handy. Wer konnte das sein? Toni vielleicht. Sie wollte bestimmt nachfragen, wie die Talkrunde gelaufen war. Jessica hielt mit der linken Hand das Oberteil des Dirndls, mit der rechten griff sie nach dem Handy und schob den Daumen über das Display.

      Auf einmal Michaels Stimme: „Ha, ha, ha.“ Jessica fuhr herum und ließ das Handy fallen. Es knallte zu Boden und rutschte Michael genau vor die Füße.

      „Du bist nicht ganz fertig“, rief er und lachte noch lauter als zuvor.

      Jessica lief auf ihn zu und bückte sich, um nach dem Handy zu greifen, ein Schwindelgefühl überkam sie. Ihr rutschte das Oberteil von der Brust. Das war der Alkohol. Sie zog am Saum und langte nach dem Handy, doch Michael war schneller. Schon hörte Jessica ein leises Klacken.

      „Hörst du auf!“, rief Jessica und versuchte, das Dirndl mit der linken Hand nach oben zu ziehen.

      Michael ließ noch einen langen Moment, wie es Jessica schien, den Finger auf dem Auslöser, dann erst legte er das Handy aus der Hand und taumelte auf Jessica zu.

      „Es geht erst richtig los“, lallte er und zog sie grob an sich. Er versuchte, sie zu küssen. Jessica drehte den Kopf weg. Sie roch seine gewaltige Bierfahne. Schnell legte sie beide Hände auf seine Brust und stieß ihn von sich weg.

      Das Dirndl rutschte nach unten. Sie verfing sich darin und fiel um. Jessica strampelte sich das Kleid von den Füßen, behielt aber dabei Michael im Blick. Allerdings verschwammen seine Konturen. Schwankend kam sie wieder auf die Beine und legte sich endlich einen Arm über die Brust.

      „Michael! Es reicht! Ich gehe jetzt auf die Toilette, und du gehst auf dein Zimmer! Denk an Christine und nicht an mich.“

      Der Name Christine hatte bei Michael schon immer gezogen. Michael grinste und drehte seine Baseballkappe in den Händen. Jessica war jetzt hellwach. Sie lief langsam an ihm vorbei in Richtung Toilette und hob dabei ihre Bluse vom Boden auf. Er brauchte nur den Arm nach ihr ausstrecken, doch zum Glück rührte sich Michael nicht. Vielleicht, weil er selbst erschrocken war. Jessica nutzte den Moment und huschte in die Toilette. Sie schloss die Tür ab.

      „So ein schöner Abend“, lallte Michael im Zimmer.

      Jessica horchte angestrengt. Endlich, nach einigen langen Minuten fiel die Zimmertür ins Schloss. Vorsichtig öffnete Jessica die Toilettentür und atmete tief aus.

      ***

      Am nächsten Morgen fühlte Jessica zuerst ihre Zunge und den fürchterlichen Geschmack im Mund. Sie setzte sich auf. Die Wände des Zimmers verschwammen ihr vor den Augen. Sie legte sich eine Hand auf die Stirn. In ihrem Kopf ein pulsierender, dumpfer Schmerz. Erst nach einem Moment nahm das Zimmer schärfere Konturen an. Da lag die Hose, nicht weit davon der BH und dort das Dirndl.

      Um Gottes willen! Jessica hielt sich die Hände vor das Gesicht. Noch einmal roch sie Michaels Atem und sah seinen gierigen Blick. Sie stieg langsam aus dem Bett, öffnete die Minibar und griff nach einer Flasche Wasser. Sie trank und sah dabei auf das Handydisplay. Was, neun Uhr schon?

      Sie setzte das Glas ab, fühlte, wie schwer ihr Körper war und wie träge die Gedanken. Ein Zustand, den sie zutiefst hasste. Er stand ganz im Gegensatz zur wunderbaren Klarheit und den Gedanken, die das Yoga mit sich brachte. Vor allem hasste sie sich in diesem Moment selbst. Sie wusste es doch. Ein Glas Alkohol und dann Schluss. Wieso hatte sie sich gestern nicht einfach daran gehalten?

      Während Jessica sich im Bad Wasser ins Gesicht spülte, dachte sie an Michael. Er war so oft abgelehnt worden. Die Hauptrolle hatte er im Club nie bekommen, jetzt gelang es ihm nicht, in Sebastians Kanzlei Fuß zu fassen, und das lag an Sebastian. Jessica wusste, wie sehr Michael darunter litt. Sie putzte sich die Zähne, griff nach der Feuchtigkeitscreme. Anschließend packte sie ihre Sachen zusammen, zog sich an und hängte das Dirndl wieder an den Schrank. Sie trat in den Flur und klopfte an Michaels Tür. Ein dunkelhaariges Zimmermädchen öffnete.

      „Der Herr Belzer ist schon weg.“

      ***

      Zehn Minuten später saß Jessica allein beim Frühstück. Der Kaffee tat ihr gut. Am besten gar keinen Alkohol mehr, dachte sie, und es kam ihr noch einmal in den Sinn, dass sie fast nackt vor Michael gestanden hatte. Das Handy brummte. Das wird er sein. Er wird sich entschuldigen wollen.

      Jessica fuhr mit dem Daumen über das Display und schaute in ihr eigenes Gesicht. Sie sah die Augenringe, das entspannte breite Grinsen, das man nur so gelöst hinbekommt, wenn Alkohol im Spiel ist. Sie sah ihre Brüste. Das Bild verschwand, und ein Text erschien.

      Frau Dr. Scheffold, las sie. Von Ihnen droht ein brisanter Datensatz in Umlauf zu geraten. Für einen überschaubaren Monatsbeitrag schützen wir Ihre Daten zuverlässig und bieten außerdem ein ganzes Paket zur Internetsicherheit an. Nehmen Sie unseren speziellen Service ganz einfach an, so wie andere Prominente auch, indem Sie uns mit Ja antworten.

      Was zum Teufel …? Jessica griff mit beiden Händen nach dem Telefon. Das war nicht Michaels Nummer. Wie konnte das sein? War jemand anderes an das Foto gelangt? Aber wie? Sie hielt das Handy, bis ihr die Finger schmerzten.

      „Alles in Ordnung, Frau Scheffold?“

      Jessica nickte dem Kellner zu. Hatte Michael das Foto verschickt? Sie lehnte sich zurück, dachte angestrengt nach und versuchte, den gestrigen Abend im Hotelzimmer Schritt für Schritt zu durchdenken. Sie hatte sich auf der Toilette die Bluse übergezogen, während das Handy im Zimmer lag. Genug Zeit für Michael, das Foto zu stehlen und zu verschicken?

      Wieder fuhr sie mit dem Daumen über das Handydisplay, fand eine neue Informationsmitteilung.

      Neue Elemente in Google Fotos las sie. Google? Wieso Google? Sie tippte auf die Mitteilung. Einen Moment später entdeckte sie in ihrem Account nicht nur ein Dirndlfoto, sondern eine ganze Serie. Jessica legte das Handy aus der Hand und hielt sich die Hände vors Gesicht. Kurz drauf vibrierte das Smartphone auf dem Tisch.

      Jessica, ich musste früh los und wollte dich nicht wecken. Lösch die Bilder. LG Michael