Dirndlgate. Jan Schreiber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Schreiber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752918878
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schon hochgefahren. Frau Scheffold, Sie sind doch sportlich? Darf ich Sie um einen großen Schritt bitten?“

      „Ja, klar, da komme ich hoch.“

      Jessica musste ihr Bein ein gutes Stück hochziehen, um auf das Podest zu kommen. Wenn jetzt die Hosennaht platzt, das wäre der Super-GAU. Der Mann stützte sie am rechten Unterarm. Um zu ihrem Platz zu gelangen, musste sie sehr dicht an Jürgen Heck vorbei.

      „Das ist ja typisch“, zischte er ihr zu, „Hauptsache Aufmerksamkeit.“

      Heck klemmte in seinem Stuhl wie ein Kronkorken in einer Flasche. Sein kleiner, dicker Körper füllte den Stuhl nahezu aus, irgendwie fehlte diesem Mann der Hals. Wie immer, sobald Jessica auf Heck traf, fragte sie sich: Worum geht es ihm eigentlich? Klar, Sebastian und Heck waren Kommilitonen gewesen. Sebastian, ein mittelloser Alt-Achtundsechziger, und Heck, ein Konservativer mit viel Geld im Rücken. Letztlich hatte sich Sebastian mit seinem Talent durchgesetzt, das fiel besonders deshalb auf, weil Hecks Büro nicht mal einen Kilometer von Sebastians Kanzlei entfernt lag.

      Jessica setzte sich, und sofort schaute Heck sie angriffslustig an. Das kann ja heiter werden.

      Der Assistent überprüfte den Sitz des Mikrofons. Er nickte Jessica zu, drehte sich weg und hob einen Daumen in Richtung Kamera. Harald von Ackern saß ebenfalls in seinem Stuhl und sortierte in aller Ruhe seine Moderationskarten. Von Ackern trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, aber keine Krawatte. Wie viele Männer um die vierzig hatte er sich, wahrscheinlich wegen Problemen mit Haarausfall, eine Glatze rasieren lassen. Das verlieh ihm zusammen mit dem runden Gesicht ein gemütliches Aussehen. Und genau darin lag die Gefahr. Jessica durfte sich von seinem kumpelhaften Plauderton nicht einlullen lassen. Der CDU-Politiker Wolfgang Börner hatte nicht umsonst die letzte Sendung einfach verlassen.

      Jessica atmete tief, und ihr Blick fiel dabei auf den einzigen noch leeren Platz in der ersten Zuschauerreihe. Ein großer Mann mit Baseballcap steuerte im Moment darauf zu. Michael. Obwohl ihn Jessica seit Ewigkeiten kannte, konnte er Toni nicht ersetzen. Trotzdem tat es ihr gut, jemand Bekanntes in der Nähe zu wissen.

      Gleich muss es losgehen. Jessica schloss die Augen. Ihr bislang größter Erfolg. Sie brauchte einen guten Auftritt, Heck hin oder her. Die Talkrunde so kurz vor der Veröffentlichung des Buches kam genau richtig, hing doch ihr neuer Lebensplan ein Stück weit davon ab. Sie wollte Alexander deutlich zeigen, wie viel er ihr bedeutete.

      Sie öffnete die Augen und sah in dem Moment, wie von Ackern Heck freundlich zulächelte. Kennen die sich etwa? Vielleicht war es kein Zufall, dass er heute hier saß und nicht Frau Friedrich. Vielleicht wusste der Sender von der Rivalität beider Kanzleien, außerdem hatte Heck viel mit Staatsanwalt Jung zu tun. Die plötzliche Ruhe um den Heinrich-Prozess. Konnte Heck sie mit etwas konfrontieren, worauf sie nicht vorbereitet war?

      Das Podest fuhr in diesem Moment noch ein Stück nach oben. Die Scheinwerfer über den Zuschauerreihen verdunkelten sich, vier andere Scheinwerfer richteten sich auf die Bühne aus.

      Sie saß wie auf einem Präsentierteller und konnte genauso wenig weg wie aus einem Fahrstuhl. Und da war es wieder! Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Etwas sehr Mächtiges rauschte durch Jessicas Körper. Ihr Herz schlug heftig. Sie krallte die Hände in die weichen Lederlehnen des Sessels.

      Eine Stimme zählte: acht, sieben, sechs …

      Dann von Ackerns Stimme: „Liebe Gäste hier im Studio, liebe Zuschauer zu Hause, ein herzliches Willkommen zur Von-Ackern-Show. Wir wollen darüber reden, ob das Internet, ob soziale Plattformen wie Facebook und Twitter dazu beitragen, bestehende Missstände in der Gesellschaft schneller ans Licht zu bringen als in der Zeit vor dem Internet. Wie wichtig ist dabei die digitale Präsenz des Einzelnen?

      Begrüßen Sie mit mir meine Gäste: die Staranwältin Frau Dr. Jessica Scheffold, den Medienwissenschaftler Henning Trové, den Rechtsanwalt Dr. Jürgen Heck und den Start-up-Gründer Steffen Arnold.

      Dr. Heck sagt: ‚Drei Viertel des Internets sind überflüssige Schaumschlägerei. Unausgegorene Informationen gelangen zu schnell an die Öffentlichkeit und beschwören unnötige Debatten herauf.‘ Die Kanzlei Heck ist im Bereich Wirtschaftsrecht eine Größe und beweist damit, dass Erfolg auch mit einer kleinen Homepage möglich ist.

      Dem widerspricht Frau Dr. Scheffold, sie sagt: ‚In Zeiten des digitalen Wandels sollte man die neuen Medien sinnvoll nutzen, anstatt sie zu verteufeln.‘ Frau Scheffold schreibt online für tausende Follower und schafft es, dass auch Normalbürger schwierige juristische Zusammenhänge verstehen können.“

      Jessica versuchte, in die Kamera zu lächeln. Die Medien warfen ihr immer vor, nach außen kalt und unnahbar zu wirken. Ein Eindruck, den sie heute entkräften wollte. Wie sollte das gelingen? Sie spürte eine enorme Anspannung.

      „‚Ich würde lieber die Hosen zu Hause vergessen als das Smartphone – ohne Internet geht gar nichts.‘ Dieser Satz stammt von Steffen Arnold. Mit Blick auf sein Leben trifft das auch zu: Begonnen hat er mit einem kleinen Start-up, jetzt betreibt er den größten deutschen Onlinemarktplatz für Bioprodukte, außerdem ist er Mitbegründer der ersten Onlinegewerkschaft. Diese Gewerkschaft vertritt die Interessen aller Menschen, die über das Internet ihr Geld verdienen.

      Der Medienexperte Herr Trové hat das Buch Die digitale Evolution geschrieben. Er hilft uns heute, alle Argumente zu verstehen, und er wird uns – sollte die Zeit dafür reichen – auch aufzeigen, wohin die Entwicklung in Bezug auf das Internet gehen wird. Noch einmal ein ganz herzliches Willkommen an meine Gesprächspartner und Zuhörer.“

      Der Applaus, der während der Anmoderation zu hören gewesen war, klang ab. Von Ackern wandte sich an Trové.

      „In Ihrem Buch beschreiben Sie unter anderem solche Phänomene wie Fake News und Hasskommentare. Und wenn ich jetzt sage, …“, der Moderator schaute ins Publikum, „… dass es kaum einen Tag gibt, an dem nicht ein Shitstorm durch das Netz geistert, werden die meisten hier im Studio zustimmen.“

      „Ja“, antwortete Trové. „Wir erleben gerade eine gewaltige Verschmutzung der öffentlichen Außenwelt. Medienmacht ist aber etwas anderes als Medienmündigkeit. Wir brauchen einen reiferen Umgang mit dem Medium, eine Art neues Bewusstsein. Genauso wie auch das Umwelt…“

      „Augenblick“, unterbrach der Moderator Trové nach diesen wenigen Sätzen. „Wie kommen wir denn zu einem reiferen Umgang mit dem Medium? Das ist doch die Frage. Ich habe Ihr Buch sehr aufmerksam gelesen. Andere Wissenschaftler fordern mehr digitale Bildung an die Schulen zu bringen, sodass die Schüler Fake News und Bildfälschungen erkennen können. Ihr Ansatz, Herr Trové, ist aber noch breiter und auch für den einen oder anderen eher schwer zu verstehen. Können Sie uns das mit einfachen Worten erklären, so als säßen wir in einer Eckkneipe?“

      „Bestimmt.“

      „Trinken Sie Weizen oder lieber Pils?“

      „Weizen“, lachte Trové.

      Jessica schmunzelte. Mit einem Blick auf den Medienwissenschaftler fiel es ihr nicht schwer, an einen Wikinger zu denken. Sein breites Gesicht, der rotblonde Vollbart und dazu die Bassstimme. Er saß ruhig in seinem Sessel und ließ keine Unsicherheit erkennen.

      „Ein Weizen bitte“, von Ackern hob die Hand, schaute in das Publikum, als wolle er tatsächlich eine Bestellung aufgeben. Jetzt neigte er sich Trové zu. Er baut Nähe auf, stellte Jessica für sich fest.

      „Ich stimme meinen Kollegen zu, was die digitale Bildung betrifft. Um aber zu verstehen, was gerade passiert, sind mir ein paar andere Aspekte auch noch wichtig. Beim Internet haben wir es mit Technik zu tun. Ein Mann beispielsweise, der jahrelang mit einem Schmiedehammer gearbeitet hat, hat andere Hände als ein Kunstmaler.“

      „Technik beeinflusst uns also?“

      „O ja, sehr“, Trové nickte. „Und zwar nicht nur die Körperteile, sondern vor allem unser Gehirn, die Art und Weise, wie wir denken und wahrnehmen.“

      „Der Mensch auf der einen Seite, die Technik auf der anderen. Warum soll das ein Konflikt sein? Keiner will auf