Franz Kafka. Bernd Oei. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Oei
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753174839
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Bekleidung enthoben, neu zu atmen lernte in aufrechtem Gang? Unbeschreibliches Staunen liegt in seinem Schweigen geborgen, jenem Bauch des Seins, der den Blick hat für den silbernen Schatten gleich jener Schneeflocke, die im schrägen Winkel niederfällt und die Haut kühl benetzt.

      Es ekelt ihn vor dieser Welt aus Mängeln, den Menschen, die wie Wetter-fahnen sind und den nächtlichen Stürmen im Wasserglas. Für Franz existieren keine eindeutigen Wahrheiten, die Lüge ist wahrhaftiger. Was es gibt, sind Gesetze, denen er sich niemals ganz zu nähern wagt, weil dies der völligen Unterwerfung gleichkäme. Er sieht sich einem Labyrinth, das ihn den Ausgang verbietet. Der liebe Gott als letzter Ausweg musste sterben, weil es überfällig war, dass die Tradition verbrannte. Es braut sich ein Krieg zusammen, in dem alles zu Boden sinken wird wie eine überreife faulende Frucht. Niemals packt uns das Mitleid so heftig wie beim Anblick der Schönheit, die vom verderblichen Atem der Unzucht berührt ist. Die Schönheit verträgt nur Tugend und Reinheit und deshalb muss er für sich bleiben gleich einer Monade, die sich selbst zur Geburt bringt.

      Der fast Dreißigjährige hat das Grübeln erfunden, es ist mit ihm geboren oder hat auf den Säugling gewartet. Sein Leben gleicht der „Beschreibung eines Kampfes“ und die einzige Rettung, die Ehe, ist doch zugleich sein Tod. Nun hat er Felice kennen gelernt und schwankt wie das Schiff auf hoher See in seinem Traum. Amerika. Vielleicht ist sie die Richtige, vielleicht sollte er den Schritt mit ihr aus der Enge des Hauses, der väterlichen Umklammerung wagen und weit fort ziehen. In diesem August haben sie sich in der Wohnung des Freundes Max kennen gelernt. Er kann ihren Augen nicht mehr ausweichen, wie er es früher bei den anderen Frauen getan hat. Seine wachsenden Verlangen nach ihr erscheint ihm wie Gogols Nase, die ihrem Herren entlaufen ist und diesem zuruft: Sie irren, mein Herr, ich existiere an sich.

      Beziehungen zwischen ihr und ihm, eine Unmöglichkeit. Be-ziehungen generell. Er wird sie ins Unglück stürzen, ihre Erwartungen enttäuschen und sie wird ihn von der eigentlichen Arbeit abhalten. Vielleicht aber wächst er, weil er es muss, hinaus aus der Enge seines Büros und des nächtlichen Zimmers, vielleicht ist das Verlieben und Verloben nicht alles ein hoffnungsloser Fall. Wenn er nur gesund bliebe und sich ein wenig erholte! Ein Urlaubsgesuch ist gestellt, Urlaub steht ihm zu, das Gesetz schreibt dies vor. Ein anderer Ausweg: der Krieg. Er hört die blutigen Arme an die Tür pochen, das Land fliegt dem Schlachtfeld sehnsuchtsvoll entgegen, wofür hätten die Gardisten sonst Jahrzehnte im Dreck gelegen und vor Prag Manöver einstudiert?

      Hüte dich vor Leidenschaften, so hat es ihm der Vater gesagt. Auch scheint seine Ehe ihm aufgetragen zu sein, der Mutter aufgezwungen so-gar. Es gibt nichts Schrecklicheres als die Ehe, diesen Kampf zweier Körper um eine Seele, höhnisch lacht der Vater, als er sich mit einer Silbe verrät. Er solle sich doch zu den Bordellen begeben, wenn er das Fleisch reden höre.

      Wie schamvoll ist da sein Blick zu Boden gesunken. Erdulden muss er des Vaters laute Stimme und sein verzagtes Zittern über das lächerliche Reinheitsbehagen. Er fühlt sich schmutzig und wäscht die Hände, als hätten sich die wühlenden Finger verräterisch in Felices Fleisch geschlagen. Nächtlich träumt er von fallenden Messern, Fleisch in Stücke schneidenden Apparaturen, so gierig ist er, dass er morgens stets hungrig erwacht.

      Morgendlich steht ein Becher Milch auf dem Nachttisch für ihn bereit, dann hustet er Schleim aus seiner Lunge ab, die Räume ungeheizt und kalt, gar nicht gut für die bereits stechende Brust. An ihnen hängt wohl ein besonderes Gewicht der Weltuhr, deren Zeiger die Verbindung von Eltern und Kind sind. Das Gleichgewicht darf nicht zerstört werden, es sind heilig blutige Bande.

      Manchmal vernimmt er eine Stimme des Widerstands, der Mensch sei nicht zum Nutzen der Gesellschaft oder der Familie wegen, sondern nur um seiner selbst willen auf der Erde. Franz, wer bist du, hat sie ihn gefragt und zärtliche Briefe geschrieben, die ihn in seiner Einsamkeit aufspüren. Es ist doch möglich, über Gefühle adäquat zu schreiben und so zu seinem tiefsten Ich zu finden. Der Chandosbrief7 irrt. Meine Sprache ist nicht verloren, sie umkreist nur die Mitte dessen, was sie zu sagen sucht. Er hat sich dieser Aufgabe angenommen, denkt sich das Innen und das Außen eine gemeinsame Kraft verbunden wie Lebens- und Todestrieb. Er will zu Felice und damit das Ende seiner bisherigen Existenz. Mein Leben ist das unendliche Zögern vor der Geburt; Vielleicht bedeutet Existieren nur Akzeptanz des Unverständlichen. Jede Stunde heimlich dem Schicksal gestohlen. „Wir können uns in die Überwelt des noch Ungeborenen hinein tragen, wenn wir die konkrete Welt überwinden. Aber zentnerschwer hängt der sichtbare Himmel über uns und lässt unseren Kopf nicht durch die materiellen Wolken hindurch.“8

      Seltsam fallen die Tage dahin in bleierner Schwere vollendeter Monotonie. Selten erreicht seine Gangart ein scharfes Allegro, nun gehen Sie schon, ruft Franz dem Kafka zu, verbunden mit einer müd gewordenen Telefonschnur, gestern hätten ihm ihre verhaltene Antwort nutzen mögen und mehr noch die ungestellte Frage, doch heute denkt er nur noch an das Amt, den unaufgeräumten Bürotisch, das Leben hinter den Zahlen verschwindend, noch nicht in ihnen aufgehend und den lamentierenden Vater, der den Nachteil nicht ganz schließender Wände der schlecht beheizten Wohnung beklagt. Für einen Ausweg ist es längst zu spät, also wird er sich weiter gedulden müssen.

      Am Ende geht es doch nur um eines: „in gesteigerter Erlösung vergessen - sein wie all ihre Brüder.“9 Der Künstler muss blind sein für alles, was ihn umgibt, um sehend zu werden für das Besondere, das in allem ist. Wie mit einem Sprunge muss er im Inneren atmen hören und flüstern die Gänge, die Wände und selbst noch das letzte Ohr. Diesen unerträglichen Geräuschen muss er standhalten, auch die vergitterten Fenster muss er als seine Freiheit begreifen lernen. „Die Grundschwäche der Menschen besteht nicht etwa darin, daß er nicht siegen, sondern daß er den Sieg nicht ausnützen kann.“ Die gegebene Freiheit ist schon keine mehr, nur die selbst errungene, sich abverlangte tägliche Mühe darf als solche gelten.

      Er horcht auf. Stille auf dem Gang. Schwere Schritte, die Stiefel seines Vaters, auf dessen Grund er schwankend wird. Ist die Erinnerung noch präsent, an das Unglaubliche, das ihn durch die Gitterstäbe seines hölzernen Bettgestells für immer von der atmenden Sorglosigkeit abgetrennt hat? Ist es nicht eigenartig, welche Gefühle die Einsamkeit umschließt und in Selbstverlassenheit sich senkt wie ein blauer Federkiel, der mit Blut ge-schrieben die Maschinerie der Gedanken schmierte, keinen Platz

      lassend für andere Bilder als das Grauen. Der Vater geht in die Küche, Dort wird er sehen, dass sein Sohn die für ihn zubereitete Speise nicht angerührt hat, er wird lächeln über die Ängste seines schwächlichen und stets ein wenig kränkelnden Sohnes, der es nicht über seine leichenblassen Lippen brachte, von angegrautem Brot zu essen oder sich von einer bereits angeschnitten und vom Alter befleckten Frucht zu nehmen.

      Sein gedankliches Kreisen um den Vater gleicht dem Kreisen um einen Turm, das ein anderer Sohn Prags beschrieb. „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise Jahrtausende lang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.“10

      Er sucht die Stille, ist kein guter Redner, aber ein umso besserer Beobachter und Zuhörer, ein Genießer der Ästhetik des Schweigens. „Die erzählende Prosa von Kafka und Becket wirkt verwirrend, denn sie scheint den Leser dazu aufzufordern, ihr hochgradige symbolische und allegorische Bedeutungen zuzuschreiben, und weist dabei diese Zuschreibungen zugleich zurück.“11

      1 I. 2. Die gelöste Verlobung

      Entzweit, schon zum zweiten Male - wie einst Kierkegaard und Strindberg vor ihm. Aus ihm würde kein Werther werden, so viel war sicher. „Besserer Zustand, weil ich Strindberg („Entzweit“) gelesen habe. Ich lese ihn nicht, um ihn zu lesen, sondern um an seiner Brust zu liegen. Er hält mich wie ein Kind auf seinem linken Arm. Ich sitze dort wie ein Mensch auf einer Statue. Bin zehnmal in Gefahr, abzugleiten, beim elften Versuche sitze ich aber fest, habe Sicherheit und große Übersicht. Der ungeheure Strindberg. Diese Wut, diese im Faustkampf erworbenen Seiten.“12

      Gelebte Ambivalenz! Verzweifelter Krieg gegen das ge-schlechtliche Keuchen und Zittern, jenes entwürdigende Stoßen und Brabbeln, Seufzen und Quieken, wo sich stets Elementares und Dämonisches begegnen. Des Mannes Verhältnis zum Weibe ist es, „worin die Polemik gegen moderne Emanzipationsideen die geringste