Ziegel - Phantastische Kurzgeschichten. B. Hank Hoefellner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: B. Hank Hoefellner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178713
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müssen mir aber versprechen, mich nicht auszulachen!“

      „Ehrenwort!“

      „Es war vor ungefähr 50 Jahren, Vietnam war gerade auf seinem traurigen Höhepunkt und auch unser Ort bekam das zu spüren. Die ersten GIs kamen nach Hause, aber anders, als wir hofften. Sie kamen mit Orden und Medaillen in Särgen zurück und Offiziere brachten uns die Fahnen für die Familien der Gefallenen. Damals lag der Ort noch um die große Biegung, vorne rechts.“

      „Die hab ich gesehen. Eine echte Ruinenstadt habt ihr da!“

      „Meine Mutter lebte dort in den 1970-gern mit meiner Großmutter in einem kleinen Haus. Mein Großvater war noch im Krieg und keiner wusste, ob er je nach Hause kommen würde. Nun, es begann damit, dass eine Frau an einem gewöhnlichen Tag völlig hysterisch beim Sheriff aufschlug. Sie vermisste ihren Sohn. Er war einfach verschwunden. Der Sheriff war skeptisch, schließlich war der Junge noch keine 24 Stunden weg, versprach aber der Sache nachzugehen. Das war der erste Fall, der dokumentiert wurde.“

      „Der erste Fall? Es gab weitere Vermisste?“

      „Noch am gleich Tag gaben sieben weitere verzweifelte Familien Vermisstenanzeigen auf. Eine Frau hatte sogar einen Ziegel mitgebracht und sagte aus, dass ihr Mann während des Rasenmähens verschwunden sei und anstelle seiner, habe sie nur diesen Stein beim noch stotternden Rasenmäher gefunden.“

      „Einen Ziegel?“

      „Natürlich nahm das niemand Ernst. Bis im Laufe der Woche weitere Ziegel an allen möglichen Stellen auftauchten.“

      „Nein!“

      „In dem Maße wie Menschen verschwanden, tauchten wie aus dem Nichts diese Ziegel auf. Das ging über mehrere Wochen so. Keiner tauchte jemals wieder auf. Schließlich beschlossen die Verbliebenen den Ort zu verlassen. Sie bauten mit ihren mittlerweile aus dem Krieg heimgekehrten Männern diesen Teil der Stadt, um in der Nähe zu sein, wenn die Verschollenen wieder auftauchen würden.“

      „Sie wollen sagen, dass mehrer Menschen über Wochen ...“

      „Über Jahre!“

      „Über Jahre einfach verschwunden sind und niemand hat je wieder etwas von ihnen gehört?“

      „Der Sheriff hatte die Sache bereits nach zwei oder drei Wochen an des FBI übergeben. Die schickten ein paar Agenten her. Die fragten, ermittelten, sammelten Spuren und Beweise. Aber auch sie zogen unverrichteter Dinge wieder ab.“

      Ich war fassungslos.

      „Sie sagen also, jeder Ziegel da draußen, steht für einen verschwundenen Menschen?“

      Lester war zu uns getreten. Er roch nach Fett und Schweiß und Zigarrenrauch.

      „Zuerst verschwanden die Kinder. Meine beiden besten Freunde damals waren unter den Ersten. Ich weiß noch, wie wir Suchstaffeln gebildet hatten und tagelang die Umgebung und die Kanalisation durchforstet haben. Damals gab es sogar noch ein kleines Wäldchen am Südrand. Das wurde dann aber im Laufe der Suchaktion, da war das FBI schon wieder weg, abgeholzt, weil irgendwer dachte, es gäbe darunter den Zugang zu einer unterirdischen Militärbasis aus dem Zweiten Weltkrieg.“

      „Und?“, fragte ich mit offenem Mund.

      „Da war aber nichts. Die Bäume verrotten noch immer an Ort und Stelle. Es wurde noch lange über die unterirdische Basis gemunkelt. Dass man dort Experimente durchgeführt habe.“

      „Experimente? Sagen Sie? Welcher Art waren denn diese Experimente? Energieforschung, Atomkraft?“

      „Sie kennen das Philadelphia Experiment?“

      „Ich habe davon gehört, ja.“

      „Geschichten dieser Art kursierten noch Jahre später, auch heute noch, in der Bevölkerung. Es gab sogar eine Untersuchung durch das Militär, weil der Stadtrat irgendwann Mitte der 1980-ger einen Senator für sich gewinnen konnte und der sich dann der Sache im Senat annahm. Aber auch deren Untersuchung verlief im Sande.“

      „Das mit dem Militär war sogar mir neu, Lester!“

      „Du hast mich ja auch nie gefragt, Mary Lou.“

      „Und Sie haben nie wieder was gehört oder gesehen?“

      „Nie wieder.“

      „Wie viele ...“

      „Genau 383. Kinder, Frauen, Männer. Jeden Alters und Geschlechts.“

      Mir lief es kalt den Rücken runter.

      „Und seither? Gab es mal wieder Vermisste?“

      „Keine, die nicht wieder aufgetaucht wären. Es schien, als hätten die Menschen damals sich schließlich mit der Angelegenheit arrangiert und lebten ihr Leben weiter. Irgendwann fingen die Leute dann an die Steine, die anstelle der Menschen dort aufgetaucht waren, zu Mahnmalen aufzuschichten, an den Orten, an denen es gehäuft zu letzten Beobachtungen der Vermissten gekommen war. Aber selbst da ergab sich kein Muster. Keine Verbindung zwischen den Standorten. Es war vollkommen willkürlich.“

      Er kratzte sich am Kopf, bevor er fortfuhr.

      „Früher gab es noch Zettel, Fotos, Teddybären, Blumen, Fotos auf Milchtüten und so was alles, aber das hat irgendwann aufgehört.“

      „Das ist die unglaublichste Geschichte, die ich je gehört habe.“

      „So, jetzt aber genug davon. Hat es Ihnen denn geschmeckt?“

      Ich bedachte Lester mit meinem breitesten Grinsen und sagte wahrheitsgemäß:

      „Es war himmlisch. Selten habe ich so gut gefrühstückt und garantiert schon lange nicht mehr so üppig.“

      Mary Lou goss Kaffee nach und Lester räumte das Geschirr ab.

      „Was ich noch fragen wollte!“

      „Alles, was du möchtest, Kleiner!“

      „Gibt es hier ein Motel, wo ich mich für ein paar Stunden ausstrecken könnte?“

      „Hm? Ein Motel nicht.“

      Sie warf einen kurzen, fragenden Blick zu Lester und dieser nickte kaum wahrnehmbar.

      „Aber ...“

      „Aber?“, fragte ich.

      „... ich könnte bei Harvey Brookes anfragen. Der führt eine kleine Pension, gleich gegenüber. Vielleicht überlässt er Ihnen ja für ein paar Stunden ein Zimmer.“

      „Das wäre sehr nett von Ihnen!“

      Mary Lou ging zu einem altmodischen Telefon, das an der Wand hing. Sie sprach mit jemandem, das sah ich, konnte aber nichts hören. Dann signalisierte sie mir mit Daumen und Zeigefinger, dass alles okay sei.

      Wenige Augenblicke später führte mich Harvey durch seine gemütliche Pension und ich bezog ein kleines Zimmer mit Fenster auf die Hauptstraße. Es war perfekt.

      Ich zog die Vorhänge zu, stellte den Wecker auf dem Nachttisch und legte mich flach auf das Bett.

      Es dauerte, bis ich einschlafen konnte. Ich wälzte mich hin und her, strampelte die Decke aus dem Bett. Vielleicht hätte ich nicht so viel essen sollen? Schließlich merkte ich, wie endlich die Müdigkeit in meine Glieder kroch. Ich vergrub mein Gesicht im Kissen und schlief erschöpft ein.

      Etliche Stunden später klopfte Harvey Brookes an die Tür des einzigen zur Zeit vermieteten Zimmers.

      „Sir? Sind Sie wach, Sir? Ich habe vorhin bereits Ihren Wecker gehört ...! Sir?“

      Als keinerlei Reaktion aus dem kleinen Zimmer erfolgte, schloss Harvey mit dem Generalschlüssel auf und betrat den Raum. Er klopfte noch einmal und sagte:

      „Sir?“

      In der Tür hinter ihm erschien Mary Lou.

      „Wie sieht es aus?“

      Harvey