Nachdem der größte Hunger gestillt war, wurden in der Runde ein paar Zigaretten angezündet und es wurde gemütlich. Tante Greten saß in einem tiefen Sessel und hatte sich zum Gläschen Rotwein („ist gut für die Gefäße...“) einen Zigarillo angesteckt („mein Körper ist so alt, das merkt die Lunge gar nicht mehr, dass ich an der kleinen Zigarre lutsche, mein Kind“, hatte sie zu Hanna gesagt, als die einmal zu ihr gesagt hatte, Rauchen sei jetzt in Bayern out...).
„Na, Mannder und Weiberleut“, sagte Hanna, „die Trauerfeier war nicht besonders schön, aber auch nicht scheußlich. Mehr hätte Hannelore, glaube ich, auch gar nicht gewollt – und ihr erbringt jetzt noch ein Rauchopfer, dann können wir ja zur Tagesordnung übergehen. Ach übrigens, ich finde, die Blumenbuben haben sich mal wieder selbst übertroffen.“
„Hat denn das gesammelte Geld gereicht?“, fragte Tante Greten, „ich will auch mal so etwas haben.“
„Hat ja noch Zeit, Tante Greten“, sagte Hanna liebevoll in Richtung der dichtesten Rauchwolken. Dann schüttelte sie den Kopf, „nein, es hat nicht gereicht, aber das muss ja keiner wissen“, sagte sie, „das war ja der einzige Blumenschmuck für die Arme.“
„Der Brief war schwer okay, fand ich“, ergänzte Udo, „vor allem der Satz, dass sie alles allein und ohne Hilfe gemacht hätte.“
„Hat sie doch auch“, sagte Wolf-Dieter, „naja, fast“.
„Das Entscheidende hat sie alleine gemacht“, gab der Graf zu Bedenken, „sie hat sich ganz alleine entschieden, ihn umzupusten, sie ist ausgestiegen, sie hat geschossen – und zur Not wäre sie auch alleine mit einem Taxi zur Salvatorkirche gekommen. Wir haben also keine signifikante Hilfestellung zur Tat geleistet, sondern waren eigentlich nur höflich zu einer alten Dame, finde ich.“
„Schon“, meinte Udo, „aber ich finde ihre Idee einfach Klasse... einfach einen alten Feind umzupusten - das hat doch ´was …, oder?“
„Willst du das jetzt auch?“, fragte Sarah und schmunzelte.
„Warum denn nicht?“, antworte Udo, „und ich meine das ganz ernst. Wer hier am Tisch hat den niemanden, dem er es noch gerne einmal zeigen würde?“
„Damit allein ist es ja nicht getan“, gab der Graf zu bedenken, „Hannelores Situation war doch schon sehr speziell: Nur noch kurze Zeit zu leben, sehr kurze.“
„Naja“, sagte Udo darauf nachdenklich, „weißt Du, ich kann mit meinem Aneurysma im Gehirn auf dem Klo beim Scheißen nicht mal richtig drücken, sonst zerfetzt es mir womöglich das Ding im Kopf. Wenn das man keine besondere Situation ist. Und Wolf-Dieter hier“, er deutete auf Wolf-Dieter, „wie lange hast du noch, du mit Deinem Lungenkrebs?“
Wolf-Dieter machte eine vage Geste, „ich weiß nicht genau, ein Jahr allerhöchstens, wahrscheinlich weniger, kommt darauf an, wie viele Zigaretten ich noch rauche...“, und dabei schaute er genüsslich auf den rauchenden Glimmstängel zwischen seinen Fingern und musste ein paarmal husten, „seht Ihr, geht eher in Richtung „weniger“, glaube ich.“
„Und du Edgar?“, fragte der Graf, „auch kurz vor dem großen Sprung?“
„Diabetes, Gicht und Rheuma und zwei Herzinfarkte... Reicht das?“
„Wie lange?“
„Ein Jahr noch, vielleicht, falls ich fleißig abnehme!“
„Was mich betrifft“, begann der Graf, „Ihr wisst es wahrscheinlich noch nicht, Prostatakrebs, inoperabel – noch ein paar wenige Jahre, höchstens...“
„Das nenne ich mal eine tolle Auswahl hier“, sagte Udo und lachte trocken, „wenn ich richtig mitgerechnet habe, dann überleben nur unsere Damen hier länger als ein Jahr.
„Wir sind eben das stärkere Geschlecht“, gab Sarah für die Fraktion Frauen zur Antwort.
„Wohl wahr“, bestätigte der Graf und fragte dann „und was bedeutet das jetzt?“
„Dass ihr Männer in Hannelores Situation seid“, sagte Hanna leise, „oder fast.“
„Und mich fragt niemand?“, gab Tante Greten laut aus der Rauchwolke, „Ihr glaubt wohl, ich sei zu alt dafür?“
„Nein“, sagte Hanna, „hier wird niemand ausgeschlossen, willst du denn dabei sein?“
„Und wie“, bestätigte Tante Greten „wobei?“.
„Willkommen im Club“, sagte Wolf-Dieter zu Tante Greten, die ihren Zigarillo inzwischen aufgeraucht hatte, „es stellt sich die Frage, wollen auch wir tun, was Hannelore getan hat?“, sagte Wolf-Dieter.
„Oder besser, wollen wir das in allen Konsequenzen?“
„Wie meinst du das?“
„Ich meine, mit Selbstmord.“
„Wenn sich`s vermeiden lässt, ohne...“, sagte Udo und schaute in die Runde.
„Sagt mal, meint ihr das ernst?“, fragte Sarah.
Alle schauten sich an. „Weiß nicht?“, sagte der Graf, „irgendwie schon... oder?“. Er schaute erst Wolf-Dieter und dann Udo an, dann auch Edgar, der gerade die Tagesfächer seiner Pillenschachtel kontrollierte.
Edgar schaute zu Boden, als ob er dort die Antwort finden könne, dann sagte er: „Man müsste es mal ausprobieren – ich meine, ob man es kann, also einen umzubringen, meine ich, man ist ja schließlich nicht als Mörder auf die Welt gekommen, oder... Und man sich die Frage beantworten, will ich so aus der Welt gehen? Nicht alleine? Aber die große Frage ist doch: Wen und wie? Und kann ich überhaupt jemanden um die Ecke bringen?“
„Wen?“, sagte der Graf, „Das findet sich, die andere Frage ist das Wie? Waffen gibt es nicht an der Ecke zu kaufen.“
„Man muss doch nicht immer schießen“, sagte Wolf-Dieter leise, „es gibt Gift, Messer, Eisenstangen, Strom, Unfälle... Man kann vom Balkon stürzen. Wahrscheinlich gibt es fast so viele Arten zu sterben, wie es Menschenleben gibt.“
„Naja schon, vielleicht. Aber jemanden zu erstechen, also, denkt nur mal, zum Beispiel dreimal zustechen, um sicher zu sein, dass man eine große Aorta oder so getroffen hat... all das Blut! Ekelhaft! Ich weiß nicht, ich glaube, das könnte ich nicht.“
„Ja, im Fernsehen werden auch fast alle erschossen, andererseits, neulich wurde eine Frau in der Badewanne ertränkt.“
„Nun komm erst mal an jemanden heran, der oder die nackt in der Badewanne sitzt, da musst du schon sehr eng mit der oder dem sein. Nee, das Erschießen scheint mir noch am einfachsten zu sein. Zielen, Finger krumm machen und... Bumm!“
„Ja, Finger krumm und bumm... das hört sich einfach an – aber du musst auch erst einmal eine Wumme haben.“
„Wumme?“, fragte Sarah, „Du meinst eine Pistole?“
„Pistole, Revolver, Gewehr.“
„Wo hatte Hannelore ihre denn her?“
„Von ihrem Vater, aus dem Krieg, hast ja gehört.“
„Und die hat noch funktioniert?“
„Offenbar, ganz offensichtlich.“
„Aber mit Pistole oder Revolver ist es ja nicht getan. Du brauchst Munition!“
„Hat denn nicht jemand eine?“, fragte Hanna.
Alle schauten sich an, dann schüttelte der Graf den Kopf: „Offenbar nicht.“ Tante Greten stand leise auf und murmelte, dass sie gleich wieder da sein würde.
„Warum habt ihr denn die von der Hannelore nicht mitgenommen, die hat sie doch nicht mehr gebraucht.“
„Weil die Bullen dann sofort gewusst hätten, dass da noch jemand am Tatort gewesen war.“
„Ach