Der Taxifahrer blickte sie im Rückspiegel staunend an, dann lächelte er und meinte, dass die alte Dame – Verzeihung... – ja wohl ziemlich viel Mumm habe... Dann stoppte er vor der Aussegnungshalle, die „Frau Doktor“ zahlte, Udo holte den Rollstuhl und der Graf fragte den Fahrer, ob er sie in zweieinhalb Stunden vom „Wiener Café“ gleich da drüben abholen wolle?
Als der VW-Bus ohne sie wieder anrollte, erinnerte sich Wolf-Dieter, dass er die weißen Lilien im Bus vergessen hatte, fluchte kurz und rannte dann armeschwingend hinter dem Bus her. Naja, „rannte“ – jedenfalls sah der Taxifahrer seine wedelnden Arme, bezog sie auf sich, hielt an und ließ das Taxi rückwärts rollen.
„Unsere Blumen“, sagte Wolf-Dieter atemlos und keuchend und deutete auf die Rückbank, wo ein Strauß weißer Lilien lag... Er nahm sie und ging so schnell wie es seine kaputten Lungen zuließen zum Eingang der Aussegnungshalle, wo die anderen feixend auf ihn warteten.
„Ja“, sagte Wolf-Dieter, „Ihr müsst gar nichts sagen... ich weiß... Alzheimer lässt grüßen!“. Dann verteilte er jeweils eine Lilie an jeden. Er schaute sich um, stutzte und sagte dann: „Die könnten die Wand auch mal neu verputzen, oder, da fällt ja alles runter... Er deutete auf große Löcher im gelben Putz, teilweise lagen ganze Stücke am Boden, die offenbar gerade erst herausgefallen waren... „und das in München... da sollte der Oberbürgermeister sich mal drum kümmern, statt dass er Ministerpräsident werden will...“
„Wird er sowieso nicht6...“, tröstete ihn Hanna, „das haben die Sozis in Bayern nicht drauf...“
20. März. Die Abschiedsfeier...
14.00 Uhr. Familienmitglieder waren nicht erschienen, es war ja nicht einmal bekannt, ob Hannelore welche gehabt hatte.
Frau Z. und Hanna hatten darauf verzichtet, den Sarg neben den anderen in der Halle zu präsentieren, in der die Särge mit dem Grabschmuck hinter Glas ausgestellt wurden, damit Angehörige und Freunde Abschied nehmen konnten.
Ein bisschen sah das dort aus, wie eine Werbeveranstaltung der Trauerindustrie. Damit die Trauergäste „ihren“ Sarg unter den 10 bis 20 anderen ja erkannten, klebte vor jedem Sarg an der großen Glasscheibe ein DIN A4 großer Computerausdruck mit dem Namen des jeweiligen Toten. Schick!
In dieser Halle war manchmal „richtig was los“, ganze Großfamilien standen da im Gang vor „ihrem“ Sarg herum, Kinder tollten zwischen den Erwachsenen oder spielten „Fangamandl“ oder ähnliches. Sehr feierlich war die Stimmung jedenfalls nicht.
Durch einen kurzen Gang unter Arkaden kam man von hier zur Aussegnungshalle, die aus der Ferne gesehen noch einen ziemlich guten Eindruck machte mit der großen Kuppel und dem krönenden goldenen Kreuz. Von der Nähe aber nahm man den großflächig abgeplatzten Putz der Fassade sehr deutlich wahr und dachte, dass das Gebäude dringend einer Grundsanierung bedürfe.
Die Aussegnungshalle mutete „klassisch“ an, zumindest die Wandmalereien der kreisrunden, jetzt eiskalten Halle sahen für Laien irgendwie „klassisch“ aus.
Wolf-Dieter hatte dafür gesorgt, dass ein „gutes“ Bild von Hannelore am Sarg stand. Das hatten sie vor einigen Jahren zufällig anlässlich eines Sommerfestes im Garten von Hannas Haus in der Hübnerstraße aufgenommen.
Der „Kranz“, den sie alle mit ihren Spenden bezahlt hatten, war wirklich schön geworden. Dabei hatten die „Blumenbuben“ gar keinen Kranz, sondern ein wundervolles Gespinst weißer Blumen aus Lilien, Nelken, Tulpen, Gerbera, Lysianthus und Schleierkraut gewebt, das dem duftigem Blumenteppich, der über dem einfachen Sarg lag, etwas Zauberhaftes verlieh.
Frau Z. hatte ein paar einführende Worte gesprochen, weil sie Hannelore noch am besten gekannt hatte: „Sie hat mir einen Brief geschrieben“, sagte Frau Z. „und den möchte ich hier verlesen.“
Sie setzte ihre Lesebrille auf, zog den Brief aus der Tasche ihrer Kostümjacke, nahm ihn aus dem Umschlag, faltete den Briefbogen auf, legte ihn auf das Rednerpult vor sich und strich ihn mit der Rückseite der Hand glatt. Dann schaute sie über die Brille in die kleine Runde.
Es war sehr still im Raum – auch deshalb, weil die einleitende Musik aus dem „öffentlichen“ CD-Player mit Hall aus allen Richtungen gekommen war und die alten, mindestens aber älteren Gäste der Trauerfeier sich wohl sehr konzentrieren mussten, um wenigstens ab und zu ein paar Worte zu verstehen.
Frau Z. machte eine kurze Pause, dann begann sie leise zu lesen:
„Liebe Frau Z., meine Freundin,
wenn sie diesen Brief lesen werden, werde ich tot sein.
Seien sie nicht traurig, für mich ist das dann die mit Abstand beste Lösung. Und ich habe sie selbst gewählt...
Ich habe einen anderen Menschen umgebracht und mich auch. Punkt. Das ist ein Fakt. Ich konnte nicht mehr leben, ich wollte nicht mehr leben und er sollte nicht mehr leben.
So einfach ist das für mich, was für sie und alle anderen wahrscheinlich schrecklich und unglaublich ist. „
Frau Z. musste eine Pause machen, um ein paar Mal tief durchzuatmen... dann wollte sie fortfahren, aber jemand unterbrach sie: „Bitte lauter!“
Frau Z. fuhr also etwas lauter fort zu lesen (was die Sache wegen des Halls nicht wirklich besser machte):
„Die anliegenden 10.000 € wollen sie bitte für meine Beerdigung verwenden. Wenn das nicht reichen sollte, es gibt da noch ein Sparbuch von der Stadtsparkasse, da ist nicht viel drauf, aber damit sollte es auf alle Fälle reichen. Ich möchte anonym beerdigt werden, wo, ist mir egal. Aber da gibt es noch ein Testament, in dem das steht. Man wird es finden, es liegt auf meinem Tisch im Wohnzimmer.“
Frau Z. unterbrach das Lesen, ließ die Hand mit dem Brief sinken und schaute in die Runde.
„Ja“, sagte sie dann, „das haben wir gemacht, also die Frau Doktor, der Herr Mittermayr und ich, also als Kommission, meine ich, das Geld hat gereicht, gerade eben... Das ist doch eine Schande, was das kostet, ich meine, so eine Beerdigung.“
„Ist ja gut, Liebes“, sagte Herr F, leise, lies weiter...“
„Ja, natürlich“, sagte Frau Z. „ ich meine ja auch nur, also wissen Sie... Ach so, der Brief, also weiter im Text: Die mir noch verbleibende Zeit wäre bestenfalls in Wochen zu zählen – wobei ich mehr Lebenszeit nicht als „gut“ und schon gar nicht als „bestenfalls“ bezeichnen möchte. Der Krebs zerfrisst meinen Körper von innen, die Scheiß-Schmerzen... Oh Entschuldigung“, unterbrach sich Frau F., „das „Scheiß“ hat sie durchgestrichen, also die Schmerzen sind manchmal nicht auszuhalten und die dunkle Einsamkeit, die mich umgibt, auch nicht.
Ja, ich habe Freunde, wenige nur, die meisten sind eher Bekannte denn Freunde. Sie, Frau Z., sind meine beste Freundin – und wir kennen uns erst ein paar Jahre, das sagt alles über meinen seelischen Zustand. Verstehen sie mich nicht falsch, aber ich bin alleine, so alleine.“
Die Stimme stockte Frau Z. einen Moment, sie musste sich einmal schnäuzen und las dann weiter:
„Also, äh, sie schreibt: Mein Leben habe ich meiner Tochter widmen müssen, die mit einer Behinderung zur Welt kam, weil sie bei der Geburt zu lange zu wenig Sauerstoff bekommen hatte. Und dann ist der Vater (der Mediziner!) so schnell verschwunden, das glauben sie gar nicht. Er wurde dann Faschingsprinz in Dachau. Dachau! Nicht einmal zu München hat es dem Versager gereicht.
Er hat mich damals im wahrsten Sinne „in der Scheiße“ sitzen lassen – so habe ich es zunächst empfunden. Später habe ich ein schönes Verhältnis zu dem kleinen Wurm, der immer so hilflos wie ein Baby blieb, und nie wirklich erwachsen wurde, entwickelt.
Als