Einen Nachteil allerdings hatte dieser so schöne, große und hohe Lesesaal: Er wurde nie richtig warm, trotz der voll aufgedrehten Heizkörper.
Viele Stunden saß die junge Frau jeden Tag an ihrem Schreibtisch, das hohe Fenster im Rücken. Der Samtvorhang vermochte sie nicht vor der Zugluft zu schützen, und der nächste Heizkörper stand irgendwo in einer entfernten Ecke. Die einzige Möglichkeit, den Tag gut zu überstehen, war ein Heizlüfter, der sich über den Hausmeister rasch herbei schaffen und anschließen ließ; eine Steckdose hatte sie schon hinter dem Schreibtisch entdeckt. Wohlig lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, während der wärmende Luftstrahl von hinten auf ihre Beine traf.
»So kann der Winter ewig dauern«, dachte sie, während sich die Wärme ausbreitete.
Das Wochenende begann für die junge Frau an jedem Samstag um dreizehn Uhr mit der einstündigen Heimfahrt in der S-Bahn, die sie – wie konnte es anders sein – lesend verbrachte.
Es war ein ganz bestimmter Samstag Abend, den sie nie vergessen sollte; an dem sie schwelgend im Bett lag mit dem herrlichen Gefühl, am nächsten Tag ausschlafen zu können. Nur kurz streiften ihre Gedanken die anfallende Arbeit am Montag in der Bibliothek, da durchfuhr sie das Entsetzen. Der Heizlüfter – hatte sie – oder hatte sie ihn nicht gezogen, den Stecker?
Sie konnte sich nicht erinnern. Der Strahler stand in der Nähe des Samtvorhangs. Konnte dieser sich entzünden? Konnte es brennen? Konnte der edle Parkettfußboden glimmen und Feuer fangen? Die schlimmsten Vorstellungen tauchten in ihrem Geist auf. Die Akademiebibliothek und die Deutsche Staatsbibliothek waren in der Gefahr abzubrennen. Das Mädchen – denn zu einem kleinen, ängstlichen Mädchen war sie in diesem Moment schlagartig geworden – wusste, dass am Wochenende alles verschlossen und niemand zu erreichen war. Wohlbehütet aufgewachsen, war es noch nie mit schwerwiegenden Problemen oder Entscheidungen konfrontiert worden, und so durchdachte es nun hilflos und naiv alle Möglichkeiten, die ihm zu Gebote standen: Fahre ich jetzt in der Nacht hin, stehe ich vor herunter gelassenen Eisengittern, die vor Montag früh nicht geöffnet werden. Rufe ich die Polizei, versucht die, mit großem Aufwand in die Bibliothek zu kommen; und wie stehe ich dann da, wenn ich im Unterbewusstsein den Stecker gezogen habe? Das würde sich sofort überall herum sprechen und an mir hängen bleiben. Was soll ich bloß tun?
Das Mädchen verkroch sich unter der Bettdecke und griff zu dem einzigen Rettungsanker, der noch blieb, und der ihm seit Kindertagen vertraut war. Es betete: »Lieber Gott, lass es nicht brennen. Ich werde auch nie wieder etwas vergessen«.
Immer wieder stammelte es diese Worte und klammerte sich an die Ermahnung, die es seit seiner Geburt vor einundzwanzig Jahren so oft zu hören bekommen hatte: Hoffe und vertraue, so hilft dir Gott.
Der erste Weg am Sonntagmorgen war der zum Radio. Ob ein Brand in Berlin Unter den Linden gemeldet wurde? Erleichtert hörte es stündlich die vergleichsweise harmlosen Meldungen, aber die innere Unruhe blieb.
Die junge Frau war kein wirklich gläubiger Mensch, aber an diesem Wochenende fand sie Trost und Hoffnung in ihrem Gebet. Die einzige Zuflucht fand sie im tiefsten Innern, in einer hilflosen Gläubigkeit. Nur diese ließ sie die Stunden in der Hoffnung auf Hilfe überstehen.
Am Montagmorgen bog sie, vom Bahnhof kommend, um die Häuserecke: Alles stand noch wie gewohnt am alten Platz. Ihr Ausschreiten, ihr Gemüt – alles an ihr schien der jungen Frau viel leichter geworden zu sein.
Sie betrat wie gewohnt den Lesesaal und ließ den Blick suchend hinter den Stuhl zum Heizlüfter gleiten. Das Elektroöfchen stand wie gewohnt dahinter, die Schnur gezogen. Hatte sie sich so getäuscht und die Schnur unbewusst aus dem Stecker gezogen?
»So etwas darf dir nie wieder passieren«, nahm sie sich vor. Da hatte sie in Unachtsamkeit eine schlimme Erfahrung fürs Leben gemacht, auf die sie gerne verzichtet hätte. Krank konnte man durch solch eine Angst werden, das hatte sie am eigenen Leib erfahren.
Als sie an diesem Tag Feierabend hatte und mit einem freundlichen Verabschiedungsnicken am Pförtner vorbei ging, rief dieser ihr plötzlich nach: »Na Frolleinchen, det nechste Mal aber den Stecker zieh’n!«
Das Mädchen drehte sich – sprachlos zunächst – zu ihm um. Dann würgte es seine Dankbarkeit heraus, wobei es diesen alten Mann am liebsten umarmt hätte. Nichts konnte ausdrücken, wie erleichtert und dankbar es sich fühlte.
In diesem Moment hatte der ›liebe Gott‹ für die junge Frau Gesicht und Gestalt angenommen.
Das große Haus
Katrin Exner
»Eigentlich«, so denkt er, »geht es mir ja gut.« In der Küche sitzend, aus dem Fenster schauend, Kaffee trinkend und sich freuend, dass er gesund und überhaupt am Leben ist.
Es könnte kühler sein, wenn es nach ihm ginge.
Es könnte aber auch noch viel wärmer sein und nach ihm geht es ohnehin nicht.
Also beschwert er sich nicht, sondern freut sich daran, dass sein Kaffee nicht so schnell kalt wird, wie er es tun würde, wenn es eben nach ihm ginge.
In der Küche sitzend vergisst er fast, dass er im größten Haus der Straße wohnt.
Aus dem Fenster schauend fragt er sich dann doch, wie das so sein würde, nicht im größten Haus der Straße zu wohnen, sondern vielleicht da drüben in dem Kleinsten.
Kaffee trinkend stellt er sich vor, was wohl die Bewohner des kleinsten Hauses über ihn und sein großes Haus dachten. Sind sie neidisch auf ihn? Macht sein Anblick sie vielleicht sogar ein wenig traurig? Kennen sie seinen Anblick und löst er überhaupt irgendwas, in irgendwem aus?
»Jetzt gerade nicht«, vermutet er, beim Blick auf die leere Straße.
Hält ihn irgendjemand für irgendwas? Er fühlt in sich und er fühlt nicht, dass ihn irgendjemand hält.
»Da hat der so ein großes Haus und sitzt in der Küche«, könnten sie denken.
»Geh doch mal an die frische Luft!«, hallt eine Stimme durch seine Erinnerung.
Dafür müsste er jedoch in den Garten gehen und das würde er nicht ertragen.
Eigentlich hatte er das Haus damals wegen des Gartens gekauft.
Gleich beim Einzug hatte er Rosenhecken eingepflanzt.
Doch irgendwann sind sie verdurstet, die Rosenhecken.
Obwohl es nicht von heute auf morgen geschehen war und er den Prozess der Kompostierung sehr wohl beobachtet hatte, hatte er die Rettung seiner Rosen immer weiter aufgeschoben, bis es zu spät war.
Er konnte nichts weiter tun, als jene Ecke vom Fenster, von der aus das knochige Gestrüpp zu sehen war, wenn er auf seinem Platz saß, mit Klebeband abzukleben.
Einmal hatte er dem Drang nachgegeben, sich für die Vernachlässigung zu entschuldigen, doch sie hatten nur ungnädig mit ihren dornigen Fingern auf ihn gezeigt. Er hatte es ihnen nicht übel genommen. Immerhin konnten sie ebenso gut wie er selbst, die prächtig blühenden Rosenstöcke des kleinsten Hauses der Straße sehen.
Was ihn lediglich frustrierte, muss für das Gestrüpp in seinem Garten pure Folter sein.
Dafür blieb den einstigen Rosen, im Gegensatz zu ihm, der Rest des großen Hauses erspart.
Da gab es viele Räume, die sich wie ein Mahnmal um die Küche herum drückten.
Das Bücherzimmer zum Beispiel.
»So viele Bücher brauchen ein eigenes Zimmer«, hatte er damals gedacht.
Er hatte die Bücher gebraucht, war er doch Arzt gewesen und was wäre ein Arzt ohne die vielen Bücher, in denen drin steht, wie man Menschen behandeln konnte.
Doch auf jeden Menschen, den er retten konnte, kamen viele, bei denen ihm die Bücher nicht weiter halfen. Irgendwann war es ein Mensch zu viel und ein Mensch zu nah und irgendwann konnte