Besondere Zeiten. Matthias Deigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Deigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754931318
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ertragen wie die andere.

      An dieser Stelle fragte sich Herr Johanson, ob es wohl Liebe sei, dass er bei der Vorstellung, seine Frau zu verlassen, Schmerz empfand. Seit längerer Zeit schon war er auf der Suche nach seiner Liebe, die ihm verloren gegangen zu sein schien in der Zeit.

      Je länger er allerdings suchte, desto mehr entzog sich ihm alles, was er jemals über Liebe gedacht, und alles, was er dafür gehalten hatte. Dafür fand er diesen Schmerz und einiges andere, durchaus von Wert, zweifelsfrei.

      So fand er, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, Verlässlichkeit – seine eigene, ihre auch – und Vertrautheit. Er kannte seine Frau gut; ihre Art zu denken, ihr Lachen an den guten Tagen, das Besondere eben, das sie ausmachte.

      Er wusste um den Schmerz in ihren gerundeten Schultern, die diese Form durch das Tragen und Nähren der gemeinsamen Söhne angenommen hatten.

      Er kannte die Narben und Furchen, die das Leben in ihren Körper geschlagen hatte, und all dies schuf eine tiefe Bindung. Gleichzeitig stieß es ihn ab als klare Spiegelung seines eigenen Alterns.

      Etwas war vorbei und doch fühlte er sich nicht frei. Unfähig zu gehen, verharrte er an dem Platz, an den ihn das Leben vor so vielen Jahren gestellt hatte, versorgte und behütete, was er sich einst vertraut gemacht hatte, und weinte in dem inneren Raum, der nur ihm gehörte.

      Bei diesem Gedanken hielt Herr Johanson inne.

      Entdeckte im gleichen Moment, dass es diesen Raum so nie gegeben hatte und nie geben würde. Es war etwas Ungetrenntes zwischen ihm und seiner Frau. Auch zwischen ihm und den Kindern, das konnte er spüren, und diese Erkenntnis versetzte ihn in großes Erstaunen. Es gab keine Trennung, und so musste sein Schmerz auch ihr Schmerz sein.

      Herr Johanson lauschte in den neu gefundenen offenen Raum und hörte mit einem Mal das unermessliche Weinen der Anderen. Lautes und leise wimmerndes, verzweifeltes und schmerzerfülltes Weinen. Mitfühlend hörte er zu und verspürte nur noch den einen Wunsch, dass sich dieses Leid auflösen und in Glück verwandeln möge.

      Das erste Mal in seinem Leben fühlte sich Herr Johanson eingebunden und als Teil einer Ganzheit. Vergleichbar vielleicht einem einzelnen Faden in einem großen vielfarbigen Teppich, der von schöpferischen Kräften weise geknüpft wurde; Tag für Tag, Jahr für Jahr. Im Strom der Zeit wurde sein Schicksal verbunden mit dem vieler anderer, nach einem Muster, das er von dem Punkt aus, an dem er gerade stand, nicht zu erkennen vermochte.

      Erst beim Blick zurück konnte er sehen, dass es gut gewesen war, denn in diesem Moment des Schauens war sein Denken und Fühlen frei von Zorn oder Vorwurf.

      Machtvoll fühlte Herr Johanson den alles verbindenden Strom, der sein Handeln lenkte, und er überließ sich dieser Kraft erstmals ohne Gegenwehr. Wurde selbst zum Strom.

      Vollkommen befreit von Unglück und Leid schlug er die Bettdecke zurück und stand leise auf. Er würde nun mit dem Hund gehen, während seine Frau wie immer das gemeinsame Frühstück zubereitete. Alles und nichts hatte sich verändert, und es war gut so, wie es war.

      Noch 36 Minuten

      Tina Lauer

       »Die Musik steckt nicht in den Noten. Sondern in der Stille dazwischen.«

      Wolfgang Amadeus Mozart

      Alles ist schwarz. Fast schwarz. Schemenhaft zeichnen sich Lichtquellen ab. Pulsierende Stempel gewonnener Eindrücke. Ihre Lungenflügel füllen sich mit Luft. In das schwarze Pulsieren mischen sich tobende Gedanken. Sie kreisen um das, was sein wird; um das, was sein könnte; um das, was nicht sein darf. Langsam entweicht die Luft aus ihr. Gedanken wegblasen. Bis nichts mehr da ist. Nur noch ein weißes Blatt, nur noch reine Konzentration.

      Sophie atmet noch ein paar Mal tief ein und wieder aus. Nur um sicherzugehen, dass nichts mehr da ist. Nicht mehr, was sie aufhalten könnte. Dann öffnet sie ihre Augen und blickt auf die graue Betonwand. Sie legt die Finger der rechten Hand an ihre Halsschlagader. Ruhige, gleichmäßige Schläge. 65 pro Minute. Metronomisch genau. Sophie genießt es, wenn ihr Körper funktioniert. Wenn er eins ist mit ihrem Willen. Mit der linken Hand klopft sie doppelt so schnell auf ihren Oberschenkel. Noch 36 Minuten.

      Sie greift nach dem Meisterinstrument, das sie von ihrem Großvater geerbt hat. Er wäre so stolz, wenn er sie jetzt sehen könnte. Würde vor ihr sitzen, sie anlächeln und den ersten Ton herbeisehnen.

      Mit einer flinken Handbewegung legt Sophie das weiße Baumwolltuch auf ihre Schulter und den Kinnhalter, setzt die Geige an, legt das Kinn darauf. Die rechte Hand greift nach dem Bogen. Wolfgang Amadeus Mozart, Violinkonzert Nr. 3 in G-Dur, Köchelverzeichnis 216. Die feinen Rosshaare ihres Bogens versetzen die Saiten in Schwingung. Die ersten Töne erklingen. Kein Stück hat sie öfter gespielt. Ihr Körper wird von einer Welle Endorphine geflutet. Sie steigern ihre Konzentration. Jeder Ton, jedes Crescendo, jedes Ritardando ist in ihr. Sie hört es, spürt es, weiß es: Noch nie war sie so gut. Noch nie so bereit. Der fensterlose Überraum füllt sich mit einer Klaviatur an Tönen. Noch einmal die Kadenz. Wenn nur nicht … Noch einmal der dritte Satz. Diese eine Passage, bei der sie jedes Mal besonders aufpassen muss. Doch nicht der Hauch einer Unsicherheit.

      Dann, endlich, huscht ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Es ist genug.

      Die letzten Töne verhallen in den dunklen Ecken des winzigen Raumes. Behutsam bettet sie das Instrument zurück in den Geigenkasten, spannt den Bogen ab und legt ihn ebenfalls an seinen gewohnten Platz. Noch 23 Minuten.

      Alles in ihr ist bereit. Sie fühlt sich gut, konzentriert, gefasst. Nichts wird sie aufhalten können. Fast nichts … Sie hat sie gehört – ihre Mitstreiter, ihre Konkurrenz – vorhin, als sie an den Räumen vorbeiging. Gute Musizierende, keine Frage. Aber so gut wie sie? Nein, ganz bestimmt nicht. Sie weiß, dass sie die Beste ist – die Beste sein kann. Sie muss es nur im richtigen Moment abrufen. Nein, da ist niemand, der sie aufhalten wird. Niemand! Aber vielleicht ... etwas ... Noch 21 Minuten.

      Sophie läuft zum Spiegel. Atmet noch einmal tief ein und aus. Ihre dunkelblonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das ärmelfreie Kleid lässt ihr genug Platz, um die Arme frei zu bewegen. Den fliederfarbenen Stoff hat sie extra danach ausgesucht, unangenehmen Schweißflecken vorzubeugen. Die Schuhe sind elegant, aber mit niedrigen Absätzen. Sie wird sorglos auf die Bühne treten und die Aufnahmeprüfung meistern. Sophie ist zufrieden mit dem, was sie sieht. Nur ein paar letzte Korrekturen. Sie greift nach dem schwarzen Kajal und setzt an, den Lidstrich nachzuziehen. Dann hält sie inne. Eine dicke Fliege hat sich auf ihr Spiegelbild gesetzt. Genau dorthin, wo ihre Nase reflektiert wird. Sophie schluckt. Sie starrt auf die Fliege, die bewegungslos verharrt. Ihr ist, als würde sie Sophie anblicken. Ist es nur eine Fliege, oder ist es mehr? Ihr ist, als blicke die Fliege sie direkt an. War da ein Flackern? Je näher sie der Fliege kommt, desto größer wird das Insekt. Sophie will es wissen, muss es wissen. Ist da mehr? Noch 17 Minuten.

      Die Fliege wächst ... verformt sich. Angst steigt in Sophie auf. Sie spürt es. Sieht es. Nein, nicht jetzt … Bitte nicht jetzt … Es darf nicht sein. Sie versucht, die Angst wegzuatmen. Ich bilde mir das nur ein. Da ist nichts. Nicht hier, nicht jetzt. Langsam ein, noch langsamer wieder aus. War der Raum schon vorher so erdrückend? Wie kann man hier überhaupt atmen? Das Insekt ist mittlerweile so groß wie eine Hummel. Mit schweren Flügelschlägen bewegt es sich in eine Ecke des Zimmers. Sophie weiß, dass ihr keine Zeit bleibt. Hektisch kramt sie in ihrem Schminktäschchen nach der weißen Dose mit dem roten Deckel. Die hummelgroße schwarze Fliege nimmt menschliche Züge an. Schon ist sie so groß wie eine Hand. Sie wächst zusammen mit Sophies Angst. Natürlich war sie schon vorher da, schon länger. Sophie hat sie gespürt, es gewusst. Wo ist diese verdammte Dose? Zitternd dreht sie ihre Tasche auf den Kopf, deren Inhalt sich polternd auf dem gefliesten Fußboden verteilt. Sie wühlt zwischen benutzten Taschentüchern, angeknabberten Müsliriegeln, Tampons, Kugelschreibern, Handcreme, Schlüsselbund und Smartphone, doch von der ersehnten Dose keine Spur. Tränen steigen in ihr auf. An alles hat sie gedacht ... nur nicht daran. Noch 13 Minuten.

      Eine menschengroße