„Ja, Herr Kaportzke, ein ausgesprochen guter Spaß, danke sehr.“ Einige der Heuschrecken lachten herzhaft, halt ein typisches Witzchen vom Chef.
„Und auch wichtig Luschke, bei den Kunden sind Sie einer vom Innendienst, sagen wir mal aus dem Controlling, der nur mal so mitfährt, um zu erleben, wie es draußen an der Front ist, klar?“
„Klar, Herr Kaportzke, Controlling, natürlich.“
Auf dem Hotelparkplatz wartete Manfred bereits auf mich. Er war dabei, sein Verdeck nach hinten umzuklappen, die Sonne schien, es war morgens schon warm und dem Manfred war nach offen fahren. Ich war mir nicht sicher, dachte jedoch, Manfreds erster Fehler war, mit einem offenen, tiefergelegten, breiten Wagen, Spoiler hier und dort, auf Kundenfang gehen zu wollen. Manfreds zweiter Fehler war seine Sonnenbrille. Keine für die Augen, eine für die komplette obere Kopfhälfte. Es war ihm sofort anzusehen, wie wenig stilsicher Manfred im Umgang mit Sonnenbrillen war. Die dritte Merkwürdigkeit, die ich an ihm erkannte war seine Krawatte. Eine dünne, ungemein lange rote Lederkrawatte, die in Manfreds kauernder Position hinter dem Lenkrad, sogar soweit hinab reichte, dass sie beulenartig über dem Reißverschluss seiner ebenfalls roten Stoffhose lag. Seine Krawatte verstand es, sich auf seiner Hose fast unsichtbar zu machen. Wie der Kopf einer roten Natter lag die Krawattenspitze über seinem Hosenschlitz, so als ob sie sich ihren Weg ins Innere suchen wollte. Ich war mir nicht sicher, ob diese Art Krawatte nun der letzte Schrei zwischen Paderborn und Bielefeld war oder einfach nur auf eine Fehlleitung des Trägers zurückzuführen war. Letztlich war es sein persönliches, sehr eigenes Entree. Ich hoffte nur, dass er wusste was er tat, doch er wusste es nicht. Er war sich die Wirkung seines belämmerten Auftritts überhaupt nicht im Klaren. Sein Ausdruck war streng und zugleich dumm und ich dachte, für manche sicherlich auch stark angsteinflößend. Wenn er wenigstens gegrinst hätte, als er mich durch seine Skibrille anschaute, dann hätte ich den Spaß verstanden, doch Manfred blieb währenddessen totsterbensernst. Er meinte es so und war sich sicher, alles richtig zu machen. Für mich wirkte es alles in allem ziemlich billig, doch Manfred kommentierte seinen Aufzug nur mit: „Wegen der Seriosität.“
Acht Stunden später war mir klar, dies war längst nicht die einzig unpassende Auffälligkeit von Manfred. Rückblendend betrachtet war dieser Tag mit den schrägsten Erlebnissen gespickt, die ich in meinem Leben durchstehen musste. Bevor wir losgurkten, übergab mir Manfred eine kleine Hartplastikbox, in der sich fünfzig Kärtchen befanden. Auf jedem Kärtchen waren ein Name, eine Adresse sowie eine Uhrzeit niedergeschrieben. Name, Adresse und Uhrzeit ergaben zusammen einen Termin. Wir fuhren folglich nicht einfach so ins Blaue an irgendwelche Mietsblöcke heran, wir hatten feste Termine, die der Innendienst vorher für die Wanderheuschrecken vereinbarte. Wir wurden also erwartet. Irgendjemand wartete auf uns. Herr Gott, wenn die wüssten!
An der ersten Ampel fragte ich Manfred, was es mit dem immer wiederkehrenden Song aus dem Kassettenrecorder auf sich habe. Bis zu diesem Zeitpunkt hörte ich dreimal „Eye of the Tiger“. Rocky lies grüßen. Manfred antwortete mir kurz und bündig: „Um mich auf Touren zu bringen.“ Ansonsten blieb Manfred ausgesprochen stumm und ich hatte meine Mühe zu erkennen, dass der Song, so oft er auch gedudelt wurde, irgendeine Reaktion bei ihm hervorrief, geschweige denn ihn auf irgendwelche Touren brachte. Die Wirkung von „Eye of the Tiger“ musste von sehr subtiler Art bei ihm gewesen sein.
Auf dem Rücksitz lag sein Aktenkoffer. Mir war längst klar, dass ich mich mit Fragen über Wasser halten musste, ansonsten wären wir stumm wie zwei Auftragskiller durch die Stadt gefahren. Auf meine zweite Frage hin, ob ich mir einmal den Katalog anschauen dürfe, griff Manfred während eines Gangwechsels mit der rechten Hand hinter seinen Sitz und schleuderte seinen Aktenkoffer zu uns nach vorn, wobei zuerst mein Hinterkopf, im weiteren Flug das scharfkantige Teil fast noch „Eye of the Tiger“ im Kassettenschacht traf. Der Song hatte offensichtlich mehr in Manfred ausgelöst, als mir lieb war, nur irgendwie sehr abrupt, wie eine große Eruption aus dem Nichts. Sein Koffer lag auf meinem Schoß und Manfred – nicht etwa ich – öffnete ihn, klappte ihn nach vorn, und kramte in seinen Unterlagen rum. Hin und wieder blickte er über das Armaturenbrett, kurze Gegenlenkmanöver, alles in allem blieben wir jedoch stets in unserer Fahrspur. Da Manfred nicht zu seiner Zufriedenheit alles fand, wonach er kramte, beugte er sich an der nächsten Ampel erneut tief mit dem Kopf in seinen Koffer hinein. Nur was ich wusste, war der, rechts neben mir stehenden, älteren Dame im Kleinwagen keineswegs klar. Als sie bemerkte, wie sich Manfreds Kopf aus meinem Schoss in ihr Blickfeld schob, wechselte ihr anfänglich freundlicher Blick in einen sehr irritierten. Natürlich, für sie war es sonniger Oralverkehr während eine Rotlichtphase, ich hätte es an ihrer Stelle auch gedacht, es sah schon danach aus. Manfred wurde schließlich fündig, wedelte mit dem Hausprospekt in der warmen Morgenluft, nach dem ich griff, als Manfred seine Doppelauspuffanlage wieder übermäßig losdröhnen ließ.
Guru Kaportzke sprach am Vortag an die Heuschrecken kein Wort über das, was die Kolonne den Leuten anzudrehen hatte. Natürlich nicht, jeder wusste Bescheid und wie ich Kaportzke verstand, war ihm das Produkt sowieso vollkommen egal. Am Abend zuvor, als Kaportzke und ich zu unserem Zweiergespräch in der Lobby zusammensaßen, erzählte er mir die Geschichte von einem neuartigen Lexikon, verpackt und hineinverschlüsselt auf eine kleine Diskette, welche sich die Leute in ihre Computer stecken können. Kaportzke sprach von etwas revolutionärem, etwas, was die Welt vorher noch nie zu Gesicht bekam. Niemand braucht mehr ein zwei Meter großes Bücherregal, um von A bis Z alles unterzubringen, nur diese kleine Scheibe war der Schlüssel zur Allgemeinbildung von Menschen, die etwas auf Allgemeinbildung setzen. Während er das sagte, drehte er die kleine, bei Licht in Regenbogenfarben schimmernde Scheibe im mittigen Loch immer wieder um den Zeigefinger, sowie man es mit einem hölzernen Spielzeug machen würde.
Meine kleine Ausfahrt fand am 09. Mai 1992 statt und an diesem Tag, wie auch an den Tagen zuvor und danach, wusste ich nicht allzu viel von Computern. Was ich wusste, war, die NASA hatte einen, auch der israelische Geheimdienst, mein ehemaliger Professor an der Uni, der mich durchrasseln ließ, und einen sah ich mal in einem Kopiershop in Berlin. Ein Mitstudent aus Berliner Zeiten sagte mir kurz vor meinem Verlassen der Stadt, schon in zehn Jahren werden die Computer über die Menschen herrschen, hörst du Ronny? Ich hörte und pulte mir unterdessen in dem Lokal, in dem wir saßen, den Strandsand vom Wannsee aus den Zehenzwischenräumen. Sollten die Computer tatsächlich – und nun waren es nur noch acht, nicht mehr zehn Jahre – die Herrschaft des Planeten Erde an sich reißen, würden sie bestimmt Gehirnwäschen mäßig oder sensorimplantierend mit Manfred beginnen. Sozusagen als ersten Testlauf, nur um zu schauen, ob, angefangen bei einem einfachen Exemplar unserer Spezies, alles glatt läuft.
Ich blätterte während der weiteren Fahrt durch den Prospekt und versuchte krampfhaft den pädagogisch wertvollen Beitrag des Produktes, speziell gemünzt für Familien, deren Kinder und Kindeskinder, mit dem neben mir fahrenden Manfred in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Die Frage, die letzten Endes vollkommen unbeantwortet blieb: Warum ausgerechnet Manfred? War er tatsächlich derjenige, der auserkoren war, das Gut der Allgemeinbildung derer dort draußen, mit pädagogischem Feingefühl und strotzend vor Wissen, auf ein neues Niveau zu bugsieren? Warum sitzt kein Lehrerehepaar hinter dem Steuer, was ich für um einiges angebrachter hielt. Die jedoch größten Probleme hatte ich damit, mir Kreisches geistigen Zugang zu diesem, sagen wir mal, Bildungsprodukt vorzustellen. Doch vielleicht lag ich auch komplett falsch und Manfred würde sich schon während unseres ersten Besuchs als wandelndes Lexikon entpuppen, fernab jeglicher persönlicher Geldgier und stets um das Wohl eines jeden Käufers besorgt. Doch warum sollte er sich so entwickeln, war Manfred doch einer von Kaportzkes Drückern und ich hörte Kaportzkes Worte nur zu oft in meinem Ohr.
Zirka fünf Minuten später forderte Manfred mich auf, die erste Karte laut vorzulesen, was ich auch tat. Wir standen bereits vor einem Häuserblock, nur zweistöckig, dafür aber ganz massiv in die Länge gebaut, dieses Mietshaus.
„Rita Perlheimer, Adresse …na wir stehen ja schon hier, wir haben´s ja gefunden.“
„Alles laut vorlesen, Luschke!“
„Okay, Manfred, Rita Perlheimer, Leipziger Straße 45, … und hier steht noch, Großmutter, Witwe und alleinstehend, eine Tochter und zwei