Ich ließ einen Fuß in der Tür stehen und qualmte eine durch. Für alles andere war meine Position in der Türschwelle nicht so passend. Ich ging zurück in meinen Panik-Raum und versuchte nun einen Platz zu finden, der hoffentlich nicht von den Kameras eingefangen wurde. Ich wollte mich nur noch ihrer Beobachtung entziehen, unsichtbar für die Psychologin sein und so drückte ich mich stehend in eine Ecke, einem Ort, von dem ich dachte, außerhalb der Reichweite des ominösen Kameraauges zu sein.
„Was tut er da jetzt?“
„Er versucht sich unserem Blick zu entziehen, doch egal was er auch unternimmt, wir haben ihn unter Kontrolle.“
„Sollen wir abbrechen? Ich denke, wir haben genug gesehen, Frau Psychologin.“
„Ja, wir brechen hier ab. Es hat keinen Sinn weiterzumachen.“
Es war nun schlag zehn und wenigstens funktionierte noch meine Einbildung von dem, was sich im Kontrollzentrum hätte abspielen können. Vielleicht war es aber auch keine Zermürbungstaktik und möglicherweise gab es auch überhaupt kein Kontrollzentrum und keine Psychologin weit und breit. Womöglich hatten sie mich nur vergessen, einfaches menschliches Vergessen. Raus aus dem Radar, nicht mehr auf dem Schirm. Doch dann hörte ich eine Stimme, weiblich, aber tief. „Herr Luschke, Sie können jetzt gehen. Wir wünschen Ihnen alles Gute. Vielen Dank!“
Ich drückte mich an der Wand langsam zur Eingangstür und hörte wieder diese Stimme aus dem Nichts. „Herr Luschke, gehen Sie bitte ganz normal, es gibt keinen Grund sich an der Wand herauszuschleichen.“
„Ja, danke, das mache ich, also ich gehe dann mal.“
Von Verwirrtheit gepackt sprang ich mit einem Satz zur Tür, riss sie auf und hechtete in die Freiheit. Ich war zur damaligen Zeit schon oft durcheinander, jedoch noch nie so durcheinander wie in diesem Moment, als ich mich aus dem Panik-Raum warf.
„Mann Ronny, du Depp! Die haben dich getestet. Du willst Vertreter werden? Es gab mit Sicherheit irgendwo Hinweise im Raum, wie du dich verhalten solltest. Natürlich nicht in die Kamera reden. Mann Ronny, überleg doch mal!“
Die Wanderheuschrecken
Irgendwo zwischen Bielefeld und Paderborn, in jedem Fall weit hinter Hannover, saß ich an diesem Morgen frischgewaschen in einem Konferenzraum eines übergroßen Konferenzhotels mitten in der Pampa. Am Vorabend hatte ich erst in der Lobby, später an der Hotelbar, ein Kennenlernen mit einem Mann, der seine Kolonne von Stadt zu Stadt jagte. Auf dem Bartresen breitete er eine Landkarte von Norddeutschland aus und lies seine Finger von Ort zu Ort wandern, von links nach rechts, von Westen nach Osten. Fruchtbarer Boden, wohin man auch blickt, waren seine Worte, während seine Augen dabei zu glänzen begannen. Sein Stoßtrupp hatte sich von westlicher Seite einem Ort zu nähern, brachte sich auf einem Parkplatz am Ortseingangsschild in Position, sollte überfallartig einfallen, von Haus zu Haus sich vorkämpfen und nach drei Tagen wäre eine Kleinstadt durchkämmt. Der Mann, der mir das erzählte, trug zwar keine militärische Kluft, aber was er von sich gab, klang nach purem Einsatzkommando und Häuserkampf. Mitten im zweiten Bier an der Bar stupste er mich an und forderte mich auf, ihm nach draußen zu folgen. Wir nahmen unsere Biere mit auf den Weg und schlenderten zum Hotelparkplatz. Warum auch nicht, dieser Sommerabend war genau richtig, um sich zwischen parkenden Karren weiter zu betrinken. Wir stoppten vor einem dunkelgrünen Jaguar E-Type, der sich quer über zwei Parkbuchten langmachte. Ich war kurz davor, das außerordentlich gut gepflegte englische Springpferd zu berühren, als er mahnend seinen Finger erhob: „Fassen Sie ihn nicht an, und passen Sie mit ihrem Bier auf!“
Er stellte sich so neben seinem Gefährt auf, als ob er darauf wartete, von mir fotografiert zu werden. Seine Sonnenbrille schob er aus seinem Haar zurück ins Gesicht und stützte sich ganz leicht auf den vorderen Kotflügel. Und griente mich an. Und nun? Eine Bemerkung von mir, wie gut er sich an seinem Automobil aus den 60ern macht? Etwas Applaus mit der freien Hand, an die, die das Bierglas hielt?
„Warum sind wir jetzt hier, hier an meinem Jaguar E-Type Luschke, Idee?“
„Ich denke, Sie wollen mir zeigen, dass Sie es sehr weit in ihrem Leben gebracht haben. Jetzt, stehend an der Seite dieses, sicherlich nicht gerade billigen Automobils.“
„Luschke, ich bitte Sie, nicht gerade billig. Mann, nicht viele können sich so etwas leisten. Aber Sie denken in die richtige Richtung. Meine Leute bekommen, für den Fall, dass sie nichts oder wenig verkaufen, so wenig Geld, dass sie nicht mal ihre Mieten bezahlen können. Machen sie allerdings einen sehr guten Job und verkaufen wie Hölle, liegt genau das hier drin.“
Seine offenen Handflächen ließ er dabei andächtig über die Motorhaube seines Jaguars wandern, und ich dachte, er würde seine kleine Vorführung mit einem „Voilà!“ abschließen wollen, so wie ich es mal bei einem Autoverkäufer sah, der mir einmal inbrünstig ein schnittiges Coupé zeigte, obwohl ich mich dort im Ausstellungsraum nur aufwärmen wollte, da es mir zu kalt an der nahe gelegenen Haltestelle wurde.
„Meine Besten machen richtig Asche Luschke, richtig Asche. Kommen Sie, wir gehen wieder rein.“ Während ich ihm zurück an die Hotelbar folgte, fiel mir erst auf, wie er mich ansprach. Nicht etwas „Herr Luschke“, oder „Herr Ronny Luschke“, er sagte ausschließlich und immer wieder nur – „Luschke“. Vielleicht war es die Gepflogenheit in dieser Firma, eine spürbar herablassende Merkwürdigkeit, die ich zwar mit jedem weiteren „Luschke“ mehr und mehr zum Kotzen fand, mich jedoch keineswegs davon abhielt, mich auf ihn einzulassen. Wieder einmal siegte meine Neugier auf alles, was das Leben mir präsentieren würde. Ich selbst beließ es bei „Herr Kaportzke“. Herr Kaportzke, der aussah wie jemand, der es mochte, sich einen ganzen sonnigen Tag an seinen Sportwagen zu stellen, um weltmännisch in die Luft zu grinsen. Mitte vierzig, höchstens, tiefengebräunt und poliert von oben bis unten, genau wie sein stolzes Gefährt. Zurück an der Bar und wieder in eine angenehme Trinkposition gebracht, erklärte ich Herrn Kaportzke die Situation mit meinem Abschluss, also mit meinem fehlenden Abschluss. Könnte ich schon bald nachholen, und dann, Schwupps, wäre meine Aktenlage sauber. Kaportzke – ich strich gedanklich ab sofort das „Herr“ – zeigte sich sehr irritiert über das, was ich sagte. Niemand, aber auch wirklich niemand aus seinem Trupp, nicht einmal er selbst, besitze so etwas wie einen Hochschulabschluss. „Luschke ...“ – da war es wieder – „Luschke, ich brauche hier keine hoch qualifizierten Theoretiker, keine Zahlendreher, keine Typen, die irgendwelche Lehrbücher nachplappern können. Kommen Sie mir nicht mit Studium und solchem Gedöns. Ich brauche Leute, die echte Verkäuferschweine sind, die sich durchbeißen können, die auf Teufel komm raus, jeden Scheiß an die Leute bringen, davon rede ich, verstanden?“
Ich verstand und drehte nunmehr meinen kleinen Einwurf in die richtige Richtung. “Herr Kaportzke, ich ein erfolgreicher Hochschulabsolvent? Sehe ich so aus? Nicht im Geringsten, wo denken Sie hin. Seien Sie beruhigt, allenfalls habe ich mich als untalentierter Bongospieler in Bahnhofstunneln durchgeschlagen. Ein Zahlendreher? Wie soll ich etwas drehen, was ich kaum kenne? Ich versichere Ihnen, ich bin durch und durch keine große Leuchte.“
Kaportzkes Gesichtszüge entspannten sich. Große Leuchten waren einfach nicht bei ihm gefragt. Eine weitere Bierlänge gab es für mich nun einiges aus Kaportzkes Welt zu hören, wobei er weniger über sich sprach, vielmehr beschrieb er den Ablauf eines