Renaissance 2.0. Christian Jesch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Jesch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754127643
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observierte sie die Männer, bis sie alle Orte ausfindig gemacht hatte, an denen die Frauen festgehalten wurden."

      "Die Frauen wurden also gezwungen?", unterbrach Jikav sie.

      "Nicht primär von den Männern, sondern eher durch die Politik von Mår-quell, die für Frauen ohne Perspektiven kein Geld ausgeben wollte. Du verstehst. Frauen, die von ihren Männern sitzen gelassen, die verprügelt wurden und wegliefen und so weiter. Jedenfalls sorgte Kaziir dafür, dass die Männer, die sich diese Politik zunutze machten, nicht mehr weiter ihrer Tätigkeit nachgehen konnten und befreite die Frauen."

      "Und du warst eine dieser Frauen."

      "Richtig. Kaziir erschien mir damals wie ein Engel in schwarzer Motorradkluft. Nachdem sie und ihre Amazonen die männlichen Mitglieder versorgt hatten...", Tandra machte eine kurze Pause, um die Zweideutigkeit des Wortes zu unterstreichen, "...wurden wir alle von den Frauen mitgenommen und man kümmerte sich um uns. So entstanden die Amazonen, die du kennengelernt hast. Und so begann auch meine Beziehung zu Kaziir."

      "Was genau ist mit den Männern passiert?", wollte Thevog wissen, der die Anspielung nicht ganz verstanden hatte.

      "Nun, sie traten sozusagen in den unfreiwilligen Ruhestand", erläuterte Tandra, was dem Jungen jedoch nicht wirklich half zu verstehen, sondern noch mehr verwirrte. Daher beschloss er, dass es wohl nicht wichtig war und konzentrierte sich abermals auf das unwegsame Gelände. Jikav hatte ihn schon einmal vorgewarnt, es gäbe heimtückische Gewächse in den Dædlænds, die man nicht sofort erkennen würde, die aber um so gefährlicher sein.

      Lange Zeit sprach keiner von ihnen kein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Gerne hätte Jikav noch mehr über Tandras Verhältnis zu Kaziir gehört, um ihr eventuelle über den Verlust hinwegzuhelfen, doch die ehemalige Amazone schwieg. Er hatte sich einen Schritt zurückfallen lassen, damit er sie unbemerkt von schräg hinten betrachten konnte. Tandra war eine wunderschöne Frau, fand er. Besonders hatten es ihm das lange, wallende, rote Haar und die sinnlichen Lippen angetan. Aber auch ihre grauen Augen waren für ihn faszinierend. War er vielleicht deswegen mit ihr verbunden, weil er eine Art Zuneigung zu ihr verspürte? Und, wenn das die Erklärung war, ging es ihr dann ebenso? Sie konnte ja auch spüren, was mit ihm geschah. Erschrocken wurde ihm plötzlich klar, dass sie möglicherweise gerade in diesem Augenblick spürte, was ihm durch den Kopf ging und welche Emotionen dies in ihm auslöste.

      Tandra drehte ihren Kopf etwas und lächelte Jikav scheinbar wissend an. Oder war es doch nur ein einfaches Lächeln der Freundschaft, vielleicht auch Dankbarkeit? Für den Moment würden sie das nicht erfahren, denn Thevog unterbrach die Stille.

      "Ich denke, wir werden verfolgt", flüsterte er fast unhörbar.

      "Was sagst du?", fragte Jikav nach.

      "Ich glaube diese Frau dort hinten verfolgt uns. Sie läuft uns schon seit einiger Zeit hinterher."

      "Das kann auch Zufall sein. Warum sollten wir die einzigen sein, die nach Akeḿ wollen?", meinte Tandra.

      "Weil sonst keiner hinter der Frau in diese Richtung geht?", provozierte Thevog. "Da ist sonst niemand mehr."

      Dieses Argument veranlasste die zwei Renegaten anzuhalten. Es war zwar immer noch kein Beweis dafür, dass die Person ihnen wirklich folgte, nur weil sonst niemand von Nuhåven nach Akeḿ wollte. Auf der anderen Seite konnte der Junge aber auch recht haben mit seiner Vermutung. Aus dem Augenwinkel beobachteten sie das Mädchen, welches erst stehen blieb, sich dann jedoch wieder langsam in Bewegung setzte und auf die Gruppe zu kam. Scheinbar hatte Thevog doch richtig gelegen. Die drei warteten, bis das junge Mädchen bei ihnen eintraf. Sie hatte einen Kurzhaarschnitt, hellblaue Augen und eine Vielzahl an Tätowierungen. Ihre Unterlippe schien ein wenig nach unten abzusacken, stellte Jikav interessiert fest. Zudem umspielten diese Lippen allem Anschein nach ein anhaltendes, wissendes oder auch selbstzufriedenes Lächeln. Irgendwie erschien Jikav das Mädchen unheimlich.

      "Hey", begrüßte Tandra sie. "Was machst du hier so alleine im verseuchten Land?"

      Die Antwort ließ einige Minuten auf sich warten. Jeder der drei wurde von ihr ausgiebig gemustert, bevor sie dann auf Jikav zuschritt, um ihn ein weiteres Mal in Augenschein zu nehmen. Der Renegat fühlte sich etwas unwohl unter den gegebenen Umständen und wollte schon einen Schritt zurücktreten, als das Mädchen plötzlich anfing zu sprechen.

      "Du bist Jikav", war alles, was sie sagte.

      "Der bin ich. Und wer bist du?"

      Erneut trat ein Schweigen ein, in dem sich die doch eher als sehr junge Frau zu bezeichnende Person den anderen beiden Mitgliedern der Gruppe zuwandte. Als Erstes ging sie zu Thevog, der sofort einige Schritte zurückwich, was dazu führte, dass die Frau einen Bogen auf Tandra zu machte. Die verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich breitbeinig in Positur. Abwartend blickte sie auf dieses unheimliche Wesen, die sich dann ohne ein Wort von Tandra abwendete und wieder auf Jikav zukam.

      "Mein Name ist Misuk und ich werde euch von jetzt an begleiten."

      "Und was macht dich da so sicher?", wollte Jikav nach einigen Sekunden der Überraschung wissen.

      "Ihr werdet schon sehen, warum es gut ist, mich dabei zu haben."

      "Das würden wir aber gerne wissen, bevor wir dich mitnehmen", hakte Tandra bestimmend nach.

      "Es wird Zeit", war Misuks einzige Antwort, während sie an den dreien vorbei nach Vorne ging, um die Gruppe weiter in Richtung Akeḿ anzuführen.

      Kapitel 3

      "Wie soll es jetzt weiter gehen?", fragte Tenju die Anführerin der Liga. Ysana blieb stehen und betrachtete sich den zerstörten Stadtkern von Nuhåven, als würde dort die Antwort liegen. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich zu ihrem Nachrichtenoffizier umdrehte. Sie schaut ihn nachdenklich an, schwieg aber weiterhin. Dann wanderte ihr Blick zu dem kleinen Haufen, der hinter dem Telepathen stand.

      "Kannst du noch mehr von unseren Leuten finden?", war ihre Gegenfrage.

      Tenju schloss die Augen und ließ den Kopf sinken. Seine Atmung wurde langsamer und regelmäßig. Dann drehte er sich langsam im Kreis, als hätte er etwas verloren, das er jetzt suchen würde. Schließlich öffneten sich seine Augen wieder und er schaute zu Ysana herüber.

      "Es gibt noch einige schwache Hirnströme von anderen Mutanten. Ich kann sie aber nicht genau lokalisieren, um uns dort hinzuführen."

      "Kannst du ihnen sagen, wo wir uns befinden und das sie sich hierher begeben sollen?"

      "Das kann ich. Ich glaube allerdings, dass sie es nicht schaffen werden. So schwach, wie ihre Gehirnströme sind, denke ich, dass sie im Sterben liegen."

      Erneut schaute Ysana auf die kleine Gruppe von neun jugendlichen Männern und Frauen. Sie waren über dreißig Mutanten gewesen, als sie das Kloster verlassen und den Krieg begonnen hatten. In der Stadt selbst schlossen sich ihnen dann noch einige wenige Mutanten an, von denen zuvor niemand etwas gewusst hatte. Jetzt waren sie nur noch eine Hand voll. Müde, enttäuscht und traurig winkte sie den Überlebenden, näher zu kommen. Jeder von ihnen war verdreckt, hatte Hunger, einige waren verletzt, andere einfach nur am Ende ihrer Kräfte oder alles zusammen.

      "Es gibt in den Dædlænds eine alte Industrieanlage, in der sich eine große Anzahl von Mutanten versteckt hält. Wir werden dort hingehen, unsere Liga wieder aufstocken und dann weiter auf Ͼapitis vorrücken. Auf dem Weg dorthin gibt es noch einige weitere Städte, in denen die Sturmredner ihre Internierungslager eingerichtet haben. Wir werden auch diese Mutanten befreien. Zu Hunderten werden wir auf die Hauptstadt zuwandern und sie uns zum Ausgangspunkt unserer großen Renaissance machen, die Welt zu verändern. Keiner, der sich uns in den Weg stellt, wird überleben. Das sind wir unseren Brüdern und Schwestern schuldig."

      Ysana hatte sich während der kurzen Ansprache immer weiter in die Rede hineingesteigert. Ihre Augen glühten förmlich vor Begeisterung über das Gesagte. Als sie jetzt das noch nicht einmal vollständige dreckige Dutzend ansah, war jedoch keine Begeisterung über ihre Vision zu verspüren oder zu sehen.

      "Wir