Franz und das Schwarz. Marius Rehwalt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marius Rehwalt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754101452
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Käfer miteinander kämpften, bis einer auf dem Rücken landete und dann von Ameisen gefressen wurde. Der Anblick gefiel ihm nicht und so schaute er in den Bach. Dort sah er, wie ein Reiher kam, sich einen Frosch schnappte und damit im Maul davonflog. Kurz darauf erblickte er, wie ein Fisch aus dem Wasser sprang und eine Mücke fraß. Und ein Vogel pickte an einem Baum Maden aus der Rinde.

      Mit einem Mal hatte Franz eine Idee.

      Er gab dem Pythagoräer zu verstehen, dass sie wieder zurücksollten. So gingen sie wieder zu dem kleinen Loch, stiegen eine dünne Leiter hinauf und kletterten zurück in den großen Raum. Sie liefen um die Blase herum und erreichten wieder das Zimmer mit der großen Tafel.

      »Was fehlt dir genau, lieber Dr.?«

      »Wenn ich das nur wüsste!«

      Franz grinste ihn an. »Genau das ist es: eine Unbekannte.«

      Der Verstand fasste sich an den Kopf, rückte sich alle seine Brillen zurecht und begann ein weiteres Mal, wie wild umherzurennen und zu klettern. Er wurde immer schneller, bis man nicht mehr sah, wo er sich eigentlich gerade befand. Man hörte es wischen und kritzeln. Überall rieselte es Kreide und tropfte es Wasser.

      Nach einer Weile stand er verschwitzt und schwer atmend neben Franz und setzte sich auf den Boden. Er lehnte sich an den Schreibtisch und schlief ein.

      Franz sah sich nun die Tafel an. Formeln über Formeln. Doch überall war nun ein neues Zeichen aufgetaucht. Es war ein großes X. Überall, wo der Verstand nicht weitergekommen war, hatte er ein X eingefügt. Weiterhin stand keine Lösung am Ende der Gleichungen. Doch Franz merkte, dass das Wissen um diese Unbekannte und dass man sie nicht kennen musste, ihn beruhigte.

       Er setzte sich daneben und dachte ernsthaft nach. Alte Erinnerungen reanimierte er in sich. Franz spürte, wie verstaubte Schubladen im Innersten sich öffneten. Es stiebte in seinem Kopf, roch nach Moder und war dunkel. Doch das große X wirkte wie eine Lampe, mit der er nun durch die Reihen in seinem Bewusstsein schritt. Er durchleuchtete alles, was sich bisher in seinem Leben abgespielt hatte. Entscheidungen, Gefühle, Gedanken, Pläne, Ziele. Alles, was er irgendwie noch aus sich hervorholen konnte, betrachtete er in Ruhe und in Frieden. Und er erlebte zum ersten Mal, wie er fast wertungslos an die Dinge heranging. Er sah sie an, wendete sie und durchdrang ihre ganze Existenz. Ihm war egal, ob es ihm gefiel, ob er traurig war oder glücklich. Er sah die Zeichen und Ereignisse seines Lebens jetzt ganz anders. Er erspähte die Unbekannte, die er niemals hatte definieren können. Erst im Nachhinein konnte man ihr einen Wert geben. Genau das machte ihn glücklich. Franz hatte versucht, mit allen Unbekannten umzugehen. Hatte sie nie verstoßen. Er wollte sie einfügen in seine Formel. Doch nicht jede Unbekannte, nicht jedes X oder Y befand sich an der passenden und richtigen Stelle. Und er wusste, es würde auch weiterhin so gehen. Es gab keine Formel für sein Leben. Nicht für das Leben. Das Leben ist Formel und Lösung zugleich. Ohne berechenbares Ergebnis. Erst der Tod, wenn er ihn ereilen würde, war das Ergebnis. Er war die Zahl hinter dem Gleichheitszeichen, die alle Unbekannten mit einbezog. Ganz, ganz, ganz am Ende.

      Franz stand auf und drehte sich um. Er ließ den Blick über den Schreibtisch schweifen und sah auf dessen Mitte einen Schlüssel liegen.

      Er steckte ihn in seine Hose und nickte Iocus zu. Seite an Seite stiegen sie aus der Blase und gingen hinter den Raum. Sie sprangen ins Loch und liefen lange Zeit am Bachlauf entlang, beobachteten die Natur, genossen die Ruhe und lieblich frische Luft. Währenddessen hing Franz alten Erlebnissen hinterher und stellte fest, dass er noch lange nicht wertfrei war.

      Flaschenpost

      Nach einiger Zeit bemerkte Franz, wie etwas sie verfolgte. Auch Iocus wurde langsam unruhig.

      »Ich glaube, dass die Schergen uns wieder nähergekommen sind«, flüsterte Franz.

      »Ja, das Gefühl habe ich auch. Und die Nacht ist nicht mehr fern. Das behagt mir nicht, nein, nein. Znarf, du musst wohl schneller laufen!«

      Und so beschleunigte Franz seine Schritte, um bald schon in ein leichtes Rennen überzugehen. Doch der Boden an dem Bachlauf war nicht optimal für solch ein Unterfangen. Bäume waren unterspült worden und deren Wurzeln klafften fast unüberwindbar über den Weg. Steine nahmen an Größe und Zahl immer mehr zu.

      Plötzlich verharrte Iocus in der Luft und hielt auch Franz dazu an, innezuhalten. Er flog an einem Baum hoch und verschwand kurz. Als er wieder in Reichweite war, rief er etwas, das Franz nicht verstehen konnte.

      Er flog zu Franz zurück und sagte: »Los, komm! Ich habe was für diese Nacht gefunden. Du wirst Augen machen.«

      Franz wunderte sich, was das sein sollte, ein Baum für die Nacht? Trotzdem machte er sich an dem halb abgestorbenen Baum ohne Krone an den Aufstieg. Nach gut einer Viertelstunde erreichte er die Spitze und musste aufpassen, nicht hinabzufallen, denn ein ausgehöhlter Stamm überraschte ihn.

      Ein Strick baumelte vor seiner Nase ins Innere. Er drehte sich auf der Kante um, nahm mühsam den Strick in die Hand und hangelte sich nach unten ins Dunkle.

      »Hallo!«, grüßte eine schelmische Stimme, die von einem lustigen Witze-Erzähler hätte stammen können.

      Franz drehte sich um und sah in die großen, grünen Augen eines Käfers. Der Käfer trug einen Frack, war ebenso groß wie Franz und hatte auf dem linken Auge ein Monokel. Darunter paffte er mit breitem Grinsen eine Pfeife.

      »Hallo, ich bin Franz.«

      »Na, ich weiß doch, wer du bist. Schön, dich mal in natura zu sehen. Gut siehst du aus. Setz dich doch nur bitte!«

      Er deutete hinter sich auf eine kleine Sitzgruppe, die aus drei verschiedenen Stühlen und einem kleinen Beistelltisch bestand.

      Sie setzten sich einander gegenüber. »Na? Hast dir eine harte Reise ausgesucht. Aber wird sich lohnen. Das wirst du sehen, mein alter Freund.«

      Der Käfer lächelte zufrieden.

      »Oh ja, es ist nicht leicht.« Franz hatte sich seine Hände unter die Oberschenkel gezwängt, stierte verlegen auf den Boden und wippte mit den Beinen hin und her.

      »Ja, da sprichst du ein wahres Wort. Moment, bitte.«

      Der Käfer stand auf und legte in der Wand einen Schalter um. Es zischte kurz und er setzte sich wieder hin.

      »Nein, das ist tatsächlich nicht einfach, aber es muss«, gab Franz etwas verbittert von sich.

      »Ach i wo! Wo denkst du hin, wo ist dein Kopf?« Der Käfer schob sich das Monokel von seinem Auge, hauchte es an und putze es mit seinem Frack, ehe er fortfuhr: »Niemand muss. Es ist dir frei. Wach auf und bleib, wie du bist und was du bist! Niemand muss. Niemand muss dem Erreger einen Namen geben. Es ist nur einfacher für den Kämpfer, einen Namen zu wissen, um den Gegner vor Augen zu haben. Etwas, für das es sich überhaupt in den Ring zu steigen lohnt. Einen Namen, den man sich auf seine Faust kritzeln kann, den man recherchieren kann. Man muss den Feind studieren. Nur dann kann es was werden. Aber auch das ist alles sinnlos, mein Freund –«

      »… wenn ich nicht will?«, schaltete sich Franz ein.

      »Ganz genau. Oh, ich mag dich. Du willst, hab ich recht?«

      »Und ob. Ich will schon lange, doch ich wusste es nicht eher.«

      »Das ist doch egal. Du bist hier. Ob gestern, ob heute oder morgen. Es zählt das Jetzt und dein eigen Herz.« Er pochte ihm sanft auf die Brust. »Und? Was ist der Feind für dich?«

      »Auch wenn ich mir dessen bisher nicht bewusst war, so ist er für mich ebenso der Schwarze Mann. Ja, so würde ich ihn definieren. So, wie auch ihr ihn hier benennt.«

      Der Käfer nickte zustimmend und brummte zufrieden.

      »Es ist nicht einfach ein Begriff, ein Erreger oder Virus«, fuhr Franz fort. »Es ist viel mehr. Es hat eine Persönlichkeit, die mich von innen heraus zerfrisst. Die mich müde macht, mein Denken lähmt und mir die Kräfte raubt. Das einen eigenen Willen hat. Es hat Macht und Kampfgeist. Es kann lenken und regieren. Mich verformen oder durchdrehen lassen.«