Alles, was Sophie sah, war dick von grauem Staub bedeckt.
Sie wandte sich nach links und öffnete die Tür, die ihr am nächsten war. Dahinter lag die Küche des Hauses. Sophie betrat sie nicht, leuchtete nur mit ihrer Handylampe hinein. Sie sah die gleichen Bodenfliesen wie in der Halle und einen großen alten Küchenherd mit einer gusseisernen Platte, einer Reling und einem emaillierten Korpus. Ansonsten war die Einrichtung spärlich: ein kleiner, schmutzverkrusteter Gasherd, der mit Flaschengas betrieben wurde, ein großer Tisch und ein paar Stühle, ein Kühlschrank, ein Küchenschrank und an einer Wand eine vorsintflutliche Spüle aus braun glasiertem Steingut mit zwei Becken, groß wie Duschwannen. Es roch faulig und nach Kanalisation. Auf dem Boden verstreut lag undefinierbarer Unrat. Die Schachbrettfliesen waren unter einer alten Schmutzschicht in der Mitte der Küche, um den Gasherd herum und unter dem allgegenwärtigen Staub kaum noch zu erkennen. Sophie schloss die Küchentür.
Hinter der nächsten Tür in der Eingangshalle lag angrenzend an die Küche so etwas wie ein Esszimmer. Sophie leuchtete kurz hinein, sah wieder den Schachbrettboden, einen langen Tisch und viele Stühle, Schränke und Sideboards, alles klobig und aus dunklem Holz, alles verstaubt. Der Raum hatte zwei mit Läden verschlossene Fenster zur Rückseite des Hauses.
Sophie durchquerte die Halle und öffnete die erste Zimmertür rechts vom Eingang. Sie fand das ›Wohnzimmer‹ des Hauses. Mit seiner hohen Decke und dem Parkettboden war es schon fast ein Festsaal. In seiner Mitte standen wie verloren ein paar plumpe Polstermöbel und eine Stehlampe um einen niedrigen Tisch und einen alten Röhrenfernseher herum. Sonst war der große Raum leer. Er roch modrig. Im Licht ihres Handys entdeckte Sophie eine Wolljacke auf einem Sofa und Bücher auf dem niedrigen Tisch davor. Eines davon lag aufgeschlagen da. Es sah aus, als ob ihre Großtante direkt vom Sofa und von ihrem Buch weg in das Heim gebracht worden wäre. Sophie schauderte.
Das Zimmer hinter der vierten und letzten Tür in der Eingangshalle war eine große Rumpelkammer. Sophie erblickte Möbel, Kartons und Kisten übermannshoch aufgestapelt, einen Haufen prall gefüllter Müllsäcke und provisorische Regale, die sich unter der Last alter Bücher bogen oder schon zusammengebrochen waren. Der Parkettboden war übersät mit Zeitungs- und Packpapierfetzen. Es roch streng nach den Mäusen, die überall im Dunklen herumhuschten und mit ihren Knopfaugen gebannt und wie hypnotisiert ins Licht starrten, wenn sie der Strahl von Sophies Lampe traf.
In der Tiefe der Küche hatte Sophie Türen gesehen, hinter denen weitere Zimmer liegen mussten, Kammern oder begehbare Schränke. Aber sie verzichtete darauf, das Haus weiter zu erkunden, und stieg auch nicht hinauf in das obere Stockwerk. Sie erwartete nicht, dort etwas anderes zu finden als das, was sie schon kannte. Statt ihren Rundgang fortzusetzen, öffnete Sophie die zweiflügelige Haustür auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite der Halle und trat nach draußen. Sie fand sich auf einer überdachten breiten Veranda wieder, die über die gesamte Länge des Hauses reichte. An einem Ende, auf Höhe des Esszimmers, standen ein Bierzelttisch, zwei dazu gehörende Bänke, zusammengeklappt und an die Wand gelehnt, und ein paar rostige Klappstühle. Am anderen Ende war die Veranda zu einem Wintergarten mit deckenhohen Sprossenfenstern umgebaut worden. Alles Glas der Fenster war zerstört, der Boden mit Splittern übersät. Leere Flaschen, Getränkedosen und Zigarettenkippen lagen auf der Veranda herum. Laub, Kiefernnadeln und Schnee, vom Wind zusammengetragen, hatten sich in Ecken und Winkeln gesammelt.
Auf Höhe der Tür war die Balustrade der Veranda unterbrochen, und vier Stufen führten hinab zu dem, was ehemals ein Rasen gewesen sein musste. Im Sommer hatte man von hier sicher einen schönen Ausblick, fand Sophie. Jetzt war nicht viel zu erkennen. Der fein rieselnde Schnee schwebte wie Nebel über dem Land.
Sie holte sich einen der Klappstühle , setzte sich und wartete auf den Handwerker. Hoffentlich kam er, bevor ihr wieder kalt wurde. Sie zog ihren wattierten Mantel fester um sich. Ihre Gedanken wanderten, ziellos zuerst, dann nahm ihr Verstand ungerufen die Arbeit auf, und sie bilanzierte ihre Situation. Sie war fünfhundert Kilometer weit gefahren, hatte 20.000 Euro Schulden geerbt, einen alten Koffer, einen Umzugskarton und ein altes, kaputtes, stinkendes, vermülltes Haus am Ende der Welt. Und sie hatte ihren Wagen in einem Schlammloch versenkt.
Was für ein Tag.
Und alles nur, weil ein unsympathischer und wahrscheinlich übereifriger Nachlasspfleger sie Monate nach dem Tod ihrer Großtante als Erbin ermittelt hatte. Hätte er sie nicht einfach übersehen können?
Und nun? Sophie hielt sich für eine praktische Frau und bildete sich auch etwas darauf ein. Das Schicksal zu beklagen, glaubte sie, brachte nichts. Stattdessen musste man Probleme angehen. Was sonst? Eines nach dem anderen, sagte sie sich, das Wichtigste zuerst. Zuerst musste sie ihren Wagen wieder flottbekommen. Immerhin hatte sie dabei Aussicht auf Erfolg und Hilfe von einem netten Handwerker mit schönen Augen und einem schönen Hund.
Irgendwann hörte Sophie den Landrover. Eine Autotür klappte, Krallen wetzten auf den Fliesen der Eingangshalle, und eine Sekunde später stand Cora neben ihr und wedelte mit dem Schwanz. Sophie strich ihr über den Kopf und knetete sacht das Knickohr. Es war warm und unwahrscheinlich zart. Die Hündin legte ihr Kinn auf Sophies Schoß und stand still.
Schritte in der Eingangshalle.
»Halloo?«
»Ich bin hier draußen«, sagte Sophie mit erhobener Stimme. Der Handwerker erschien auf der Veranda. Er sah sie und sagte: »Verwöhnen Sie das Tier nicht, sonst werden Sie es nicht mehr los.«
Sophie beugte sich zu der Hündin und sagte: »Hast du das gehört, Cora? Der denkt, du wärst ein Tier.«
»Was ist das für ein Haus?«, sagte der Handwerker.
»Ich habe es geerbt.«
»Darf ich mich mal umsehen? Haben wir Zeit dafür?«
»Klar. Sie brauchen aber eine Taschenlampe.«
Der Handwerker verschwand. Cora hatte nach ein paar Minuten genug und verschwand auch. Sophie wartete ohne Ungeduld, obwohl ihr mittlerweile wieder kalt geworden war, besonders an den Füßen. Hin und wieder hörte sie Geräusche im Haus, Schritte, Türen, die geöffnet und geschlossen wurden. Der Handwerker ließ sich Zeit. Erst nach zehn Minuten tauchte er wieder auf. Er holte sich einen der Klappstühle und setzte sich in Sophies Nähe.
»Ein schönes Haus«, sagte er. »Glückwunsch.«
Was? Wozu? Sophie sagte: »Meinen Sie das ernst? Für mich ist es eine Ruine.«
»Nun ja …«, sagte der Handwerker. »Man könnte was draus machen. Die Bausubstanz ist gut, der Keller ist trocken …«
»Das Dach ist eingestürzt.«
»Das lässt sich reparieren.«
»Ist das Ihr Beruf? Alte Häuser reparieren?«
»Ich bin Zimmermann«, sagte der Handwerker. »Ich tischlere auch, aber nur so nebenher. Manchmal helfe ich als Dachdecker oder Gerüstbauer aus.«
»Wollen Sie das Haus haben?«, sagte Sophie. »Ich verkaufe es Ihnen. Für 21.406 Euro. Und 52 Cent.«
»Ich habe kein Geld.«
»Nehmen Sie einen Kredit auf.«
Der Handwerker, der Zimmermann war, lachte und sagte: »Oh je. Ich habe schon mehr Schulden, als es gesund ist.«
Damit sind wir jetzt zu zweit, dachte Sophie. Dann saßen sie schweigend nebeneinander. Es war kein unbehagliches oder verlegenes Schweigen. Es gab nur einfach nichts zu sagen. Es gab auch nichts zu sehen, von dort, wo sie saßen, nur rieselnden Schnee