Böse Obhut. Patricia Weiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patricia Weiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090147
Скачать книгу
gerne. Bei der Kälte ist das genau das Richtige." Gilda lächelte breit, um ihr Unbehagen zu verbergen. Der Raum war eiskalt, von den Wänden blätterte die Farbe ab, die Möbel waren abgestoßen und schäbig. Michael hatte einen Drink zu viel gehabt und das Mädchen sah aus wie eine Fixerin, die ihr gleich die Tasche entreißen würde, um den nächsten Schuss zu kaufen. „Was ist passiert? Ist jemand ermordet worden?" Vorsichtig trank sie von dem lauwarmen, bitteren Gebräu.

      Michael schenkte sich ebenfalls eine Tasse ein und nickte. „Eine unserer Schutzbefohlenen ist an einer Überdosis gestorben. Sie wurde heute Morgen gefunden. Wir sind total erschüttert. Deshalb haben wir jetzt eigentlich geschlossen."

      „Tut mir leid", murmelte Gilda.

      Das schwarzhaarige Mädchen schnaubte verächtlich. „Tu nicht so scheißfreundlich. Mir machst du nichts vor! Dir ist das total wurscht! Ihr Luxus-Barbies verachtet uns."

      „Cora ..." Kraftlos versuchte Michael, die Attacke des Mädchens zu stoppen.

      „Ist doch wahr! Die beachten uns gar nicht. Schauen weg und interessieren sich nicht die Bohne dafür, wie dreckig es uns geht. Als wären sie etwas Besseres. Aber das seid ihr nicht. Hast du mich verstanden? Wir haben nicht immer auf der Straße gelebt. Wir sind nur in die Scheiße geraten. Das kann jedem passieren. Dir auch!"

      Gilda hob beschwichtigend die Hände, es fiel ihr nichts ein, was sie hätte entgegnen können, ohne das Mädchen weiter zu reizen.

      Michael schlug auf den Tisch. „Schluss jetzt, Cora. Hier geht es um ein anderes Thema. Entweder, du beruhigst dich und setzt dich zu uns, oder du verschwindest."

      Gilda erwartete, dass das Mädchen wütend zur Tür hinausrauschen würde, aber überraschenderweise nickte sie und zog sich einen Stuhl heran.

      „Tut mir leid, dass ich zu einem ungünstigen Zeitpunkt komme, das konnte ich nicht wissen", begann Gilda erneut.

      „Wir konnten das alle nicht ahnen. Zoras Tod ist der totale Schock. Sie war auf einem guten Weg, seit Wochen clean. Keine Ahnung, wie es zu einem Rückfall kommen konnte. Sie war viel zu erfahren für eine Überdosis." Michael schüttelte den Kopf, angelte nach der Wodka-Flasche, die mitten auf dem Tisch stand, und goss einen großzügigen Schluck in den Becher.

      Gilda scharrte unbehaglich mit den Füßen. Betrunkene machten ihr Angst. Sie hatte es am eigenen Leib erlebt, wie aufdringlich und gefährlich sie werden konnten. Als sie auf Ibiza in einem Strandklub gejobbt hatte, war sie nur knapp einer Vergewaltigung entgangen. Ein Betrunkener hatte sie nachts auf dem Heimweg in ein Gebüsch gezerrt. Nur dank eines beherzt eingreifenden Touristen war es nicht zum Äußersten gekommen. Sie versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren: „Könnte es Selbstmord gewesen sein?"

      „Bullshit!" Cora fuhr hoch. „Sie hatte es doch geschafft: Keine Drogen, auf der Warteliste für 'ne eigene Bude und in ein paar Wochen wollte sie eine Ausbildung als Kosmetikerin anfangen. Sie war so happy! Das schmeißt man doch nicht einfach weg."

      Gilda zuckte die Schultern. „Vielleicht hat sie Angst vor der Herausforderung bekommen? Der Schritt zurück in ein strukturiertes Leben, in dem man alle Erwartungen erfüllen muss, kann einschüchternd wirken."

      „Sag mal, bist du 'ne Psycho-Tussi? Was redest du da für einen Scheiß?“ Cora stützte die Arme auf den Tisch und guckte Gilda an, als wollte sie sich gleich auf sie stürzen.

      „Cora, ich sage es nicht noch einmal: Halt dich zurück oder geh!" Michael warf einen strengen Blick auf das wütende Mädchen, dann wandte er sich an Gilda: „Nein, ich glaube nicht, dass sie Panik bekommen hat. Sie war in einem Spezialprojekt zum Drogenausstieg, da wurde sie psychologisch und medikamentös gegen Angstzustände und Depressionen behandelt. Die merken sofort, wenn irgendetwas mit den Teilnehmern nicht stimmt, und steuern dagegen. Zora hatte keine Angst vor der Zukunft. Sie hat sich darauf gefreut."

      „Genau." Cora hatte sich wieder beruhigt. „Prof Martin hätte ihr sofort etwas gegeben, wenn sie einen Depri-Trip gehabt hätte. Hatte sie aber nicht. Im Gegenteil, sie war total gut drauf, weil alles so geil lief. Sie war höchstens ein bisschen mitgenommen von der Therapie. Aber so ein Entzug ist auch kein Kinderspiel."

      „Prof Martin?", hakte Gilda ein. Hatte Barbara nicht heute Mittag noch von einem Professor Martin erzählt, der sie für eine Wohltätigkeitsveranstaltung gebucht hatte?

      Michael lächelte schwach. „Genau der. Man bringt ihn eigentlich mit solchen Sozialprojekten nicht in Verbindung."

      Gilda trank einen Schluck von ihrem Kaffee und schälte sich aus der Daunenjacke. Langsam wurde es ihr doch warm. Cora beugte sich vor, schnappte sich Michaels Feuerzeug und entzündete eine halb abgebrannte Kerze, die in einem Nest aus skelettierten Tannenzweigen steckte. Ihre anfänglichen Vorbehalte gegen Gilda schien sie abgelegt zu haben, jetzt wollte sie eine gemütliche Atmosphäre schaffen. Allerdings wirkte das Gesteck so trostlos und vernachlässigt wie die ganze Einrichtung.

      „Also schließt ihr Selbstmord aus?" Das Thema ging Gilda nichts an, aber sie war neugierig.

      „Ja, auf jeden Fall." Michael nickte entschieden mit dem Kopf. „Sie hätte sich nicht auf den Kirchenstufen direkt vor unserer Haustür umgebracht. Das hätte sie uns nicht angetan."

      Cora nickte zustimmend, stellte ihre Füße auf den benachbarten Stuhl und schlang die mageren Arme um ihre dünnen Beine.

      Draußen war es stockdunkel geworden, das spärliche Licht der Deckenlampe drang kaum bis in die Ecken. Gilda sah beunruhigt auf ihre Uhr. Zu lange wollte sie sich nicht aufhalten.

      „Könnt ihr für uns herausfinden, was mit Zora passiert ist?" Cora sah Gilda durch den Schleier ihrer langen Haare erwartungsvoll an.

      „Nein, tut mir leid. Wir übernehmen keine Mordfälle. Und auch nichts mit Gewalttaten. Firmenpolicy."

      „Firmenpolicy", äffte sie das Mädchen nach.

      „Wieso glaubst du, dass es Mord war? Vielleicht ist nur irgendetwas schief gelaufen." Michael schien noch blasser geworden zu sein, sofern das in dem düsteren Raum überhaupt zu erkennen war.

      Gilda beugte sich vor: „Na, entschuldigt bitte, eure Zora hatte keinen Grund, sich umzubringen, war zu erfahren, um eine Überdosis zu nehmen, und hätte nicht vor eurer Tür gespritzt. Was bleibt da noch übrig?"

      Michael malte mit den Fingern nervös ein paar Buchstaben nach, die jemand in die gemaserte Holzplatte des Tisches geritzt hatte. „Weißt du, es gibt noch etwas anderes. Unsere Akten sind durchwühlt worden, es fehlen Formulare. Könntet ihr darüber mehr herausfinden?"

      „Was meinst du damit?" Cora blickte Michael genauso erstaunt an wie Gilda.

      „Jemand hat unsere Ordner durchgeblättert. Es ist bereits vier- oder fünfmal vorgekommen. Genau weiß ich es nicht, weil ich es nicht unbedingt immer bemerkt habe. Und manchmal fehlte ein Blatt."

      „Was für Unterlagen?", fragte Gilda.

      „Anträge für das Projekt von Prof Martin. Ab und zu fehlte ein Stammblatt mit den persönlichen Angaben einer Teilnehmerin."

      „Teilnehmerin? Gibt es keine Männer?"

      „Doch, aber von denen fehlt nichts."

      „Komm, das war garantiert einer der DROBIES. Manche wollen nicht clean werden und durchsuchen alles, um an Kohle zu kommen." Cora winkte verächtlich ab.

      „Wer sind die DROBIES?" Gilda schaute von einem zum anderen.

      „Unsere Kunden, wenn du so willst. Die Menschen, die von den Drogen loskommen möchten und bei uns Unterstützung suchen. Das hier ist die DROBERA und die Leute, die wir betreuen, nennen wir DROBIES. Hat sich so eingebürgert."

      „Ok", nickte Gilda. „Könnte es einer der DROBIES gewesen sein?"

      „Klar", rief Cora, doch Michael schüttelte gleichzeitig den Kopf.

      „Nein. Was sollen die mit den Unterlagen? Wenn