Daheim in seinem Zimmer ist’s friedlich. Oh, süße Seligkeit der Stunden von ein Uhr nachts bis sechs Uhr morgens! Oh, Rausch der einsamen, der belebten Nacht! Ob man ein Buch aufschlägt – etwa das, in dem die Verse des verruchten Lieblingspoeten stehen – ob man aus dem Fenster blickt oder in einen Spiegel, oder einfach ins Leere: von überall her kommen die reizenden, verlockenden, verdächtigen Gestalten. Es müßte doch möglich sein – so meint der Benommene, zugleich Betäubte und fiebrig Angeregte – ach, es sollte gelingen, wenigstens einen Teil der zärtlichen und originellen, tiefen und überraschenden, wahrscheinlich ungeheuer wichtigen Einfälle, die jetzt wie eine Schar von wundersamen Vögeln durch mein Haupt ziehen, auf dem Papiere festzuhalten. Es sollte gelingen. Hier ist weißes Papier … Martin bedeckt es mit Zeichen. Seine Hand zittert. Er schreibt mit zitternder Hand. Und am nächsten Nachmittag, wenn er aus abgrundtiefem Schlaf erwacht, weiß er selber nichts mehr anzufangen mit den mystischen Chiffren, die er nächtens oder zur frühen Morgenstunde aufs Papier geworfen hat. Aber gähnend erinnert er sich, wie schön und köstlich es gewesen ist, als das sanfte Grau im großen Fenster sich allmählich rosig verfärbte.
Weniger reizend als die verschwommenen Reminiszenzen sind die realen Andenken, die ihm an die nächtliche Verzauberung bleiben. In den Schenkeln und Armen tun die Einstichstellen weh; einige sind entzündet – es wird doch nicht wieder ein Furunkel geben? Neulich hat Martin lange an einem garstigen Abszeß zu laborieren gehabt. Doch ertappt er sich dabei, daß er die schmerzenden Male liebkost, die er dem Gift zu verdanken hat. Sie sind wie die kleinen Wunden, die man von einer wilden Liebesnacht zurückbehält. Hier hat ein Mund sich gierig festgesaugt, und dort sind noch die Spuren der Zähne. Auf Schultern, Armen und Brust brennen die Zeichen, wie die neuen Tätowierungen eines jungen Matrosen … Ärgerlicher findet Martin es schon, daß er wieder mehrere Löcher ins Leintuch, in die Kopfkissen und die Bettdecke gebrannt hat. Es sind ziemlich große Löcher, häßlich braun umrandet. ›Man soll eben nicht Zigaretten rauchen, wenn man nicht den Willen und die Kraft hat, sie festzuhalten. Sie schmecken ja ganz besonders gut, im selig benommenen Zustand. Aber man vergißt sie; man läßt die Hand sinken, die sie eben noch zum Munde führen wollte; die Zigarette ist ein Teil der Hand geworden, ein elfter Finger. Man meint, mit dem Finger das Bett zu berühren, aber die Flamme liegt auf dem Kissen, sie frißt sich ein, hat ihr eigenes Leben – so entstehen im weißen Zeug die großen Löcher mit den braunen Rändern. Jean, der gute Jean, wird schimpfen, wenn er es bemerkt. Und die Patronne wird einen saftigen Schadenersatz verlangen. Der Teufel soll die Zigaretten, die Leintücher, das Heroin und das Leben holen!
Wie fahl der Tag heute ist! Welche Zeit haben wir denn? Mein Gott, schon beinah fünf Uhr nachmittags …‹ Er greift zur Spritze. Nach fünf Minuten hat der trübe Tag sich bis zu einem gewissen Grade verschönt, der es erträglich scheinen läßt, ihn zu überleben.
So geht es nicht weiter – sagten die Freunde. David Deutsch, der sich jeden Tag um Martin kümmerte, sagte es mit Inständigkeit. Zuweilen erschien auch Marcel; der wilde Vogelschrei, das jauchzend-klagende »Uhuu …« auf dem Korridor meldete ihn an. »Was du treibst, das sind gefährliche Kindereien«, schalt er, die vielfarbigen, wunderbaren Augen drohend aufgerissen. »Der Spaß geht zu weit – tu comprends, mon vieux? So weit darf man sich nicht gehen lassen, es ist unwürdig. Schluß damit!« – »Schluß damit!« riet und verlangte mit dem stärksten Nachdruck Marion, als sie wieder einmal nach Paris kam. »In Zürich ist alles vorbereitet. Dieser brave Doktor Rüteli erwartet dich längst. Nimm dich zusammen! Fahre endlich hin!«
Martin schaute die warnenden, beschwörenden, zornigen, manchmal sogar angewiderten Freunde schläfrig, zärtlich und verhangen an – und er blieb. Eines Morgens aber kam ein Telegramm von Kikjou: »Wenn du nicht in dieser Woche nach Zürich zur Kur fährst, sehen wir uns nie wieder.« Da entschloß sich endlich der Vergiftete. Übrigens waren auch die Geldschwierigkeiten inzwischen fast unleidlich geworden. Der kleine Wechsel, den der Pariser Geschäftsfreund des alten Korella immer noch monatlich ausbezahlte, langte knapp für die Hotelrechnung. Es gab Schulden bei der Schwalbe und, was schlimmer war, bei Pépé, der sich immer häufiger weigerte, die Droge auf Kredit zu liefern. – Marcel und David finanzierten gemeinsam die Reise nach Zürich.
Doktor Rüteli, der von Paris aus benachrichtigt worden war, holte Martin vom Zuge ab. Er hatte ein großes, rasiertes Gesicht mit etwas hängenden Wangen und nachdenklichen braunen Augen. Stimme, Blick und Antlitz wirkten weichlich; der Händedruck aber war überraschend fest und herzlich. »Ich denke, wir fahren gleich zum Haus Sonnenruh«, sagte der Arzt. Martin hatte noch gar nicht gewußt, daß der Ort, wo die Entziehungskur durchgeführt werden sollte, einen so idyllischen Namen trug. Übrigens kam er sich vor wie ein Schüler, der in einer fremden Stadt ankommt, wo er vom Leiter eines sehr strengen Internats – einer Art von Strafanstalt für Jugendliche – erwartet wird. Für den Anfang ist der Herr Lehrer freundlich, um es dem Jungen nicht gar zu schwer zu machen.
»Wann haben Sie sich die letzte Injektion appliziert?« erkundigte sich Doktor Rüteli im Taxi.
»Vor einer Stunde etwa, im Zug.« Martin erklärte es nicht ohne einen gewissen Trotz, als wollte er sagen: Damals war ich noch ein freier Mann, und niemand hatte mir etwas dreinzureden!
Doktor Rüteli nickte düster. »Man kann es Ihren Augen ansehen. – Übrigens hatte ich Sie schon vor vierzehn Tagen erwartet. Vor genau vierzehn Tagen hatte mir unser Freund, Doktor Deutsch, Ihren Besuch angekündigt.« Es klang ziemlich drohend. Martin sagte schläfrig: »Ich war in Paris durch wichtige Arbeiten festgehalten.« Doktor Rüteli machte höhnisch: »Aha.« Martin ärgerte sich. Der Arzt merkte es; schien es gutmachen zu wollen und bot Zigaretten an. Martin hatte wieder das Gefühl, ein Sträfling zu sein, dem man aus Mitleid – oder vielleicht zum Spott – unbedeutende kleine Vergünstigungen gewährt, ehe die eigentliche Bitterkeit des Strafvollzuges beginnt.
Während der Wagen in einer stillen, recht soigniert wirkenden Straße hielt, sagte Doktor Rüteli noch, mit freundlich-ernster Nachdrücklichkeit: »Haus Sonnenruh ist keine geschlossene Anstalt, Herr Korella; sondern ein privates, fast wie ein Hotel geführtes Erholungsheim. Ich persönlich ziehe geschlossene Häuser für Entziehungskuren ganz entschieden vor. Ja, ich muß gestehen, daß ich zunächst die stärksten Bedenken hatte, dem Rate Ihres Freundes Deutsch zu folgen, der dahin ging, Ihnen jede irgendwie überflüssige Kontrolle, alle Peinlichkeiten eines vorübergehenden Freiheitsentzuges zu ersparen. – Nun ist es freilich höchst fragwürdig«, fuhr der Doktor pedantisch fort – der Chauffeur hatte schon den Motor abgestellt; aber Rüteli schien entschlossen, seinen kleinen Vortrag im Wagen sitzend zu beenden – »bis zu welchem Grade der Freiheitsentzug bei einer Kur, wie sie Ihnen bevorsteht, als entbehrlich zu bezeichnen ist. – Jedenfalls, von einer regulären Entziehung kann unter diesen Umständen natürlich gar nicht die Rede sein«, erklärte er, plötzlich fast zornig. Dann fügte er sanfter hinzu: »Der Erfolg des Experimentes hängt durchaus von Ihrem eigenen guten Willen ab, lieber Herr Korella!« Er versuchte, seinem Gesicht einen ermunternden Ausdruck zu geben.
Martin bezahlte das Taxi, während Doktor Rüteli zerstreut in die Luft blickte.
An der Haustüre erwartete eine hübsche junge Person in Pflegerinnentracht den neuen Patienten. Der Arzt stellte vor: »Schwester Rosa.« Sie wirkte sowohl mild als adrett; das Lächeln ihres sehr kleinen und roten Mundes war keusch und sanft, doch nicht ohne Koketterie.
In der Dämmerung des Korridors, durch den Schwester Rosa die Ankömmlinge geleitete, tauchte noch ein zweites weibliches Wesen auf: Fräulein Bürstel, die Direktrice des Hauses. Sie hatte auffallend rote Backen und hellblaue, wässerige Augen. Martin konstatierte sofort, daß sie ungewöhnlich dumm war. »Mögen Sie sich recht wohl bei uns fühlen!« rief sie, beide Hände innig ausgestreckt. Martin erwiderte eisig: »Ich danke Ihnen, gnädige Frau.« Daß er sie gnädige Frau titulierte, war die pure Bosheit, da Rüteli die Dame ja soeben als »Fräulein« vorgestellt hatte. Die Bürstel schickte denn auch einen halb pikierten, halb nachsichtigen Blick über ihn hin, als