Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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Februar 1936 waren die beiden gerade in einem besonders deplorablen Zustand. Sie beschlossen, für einige Wochen nach Südfrankreich zu fahren; Kikjou hatte eine größere Überweisung aus Lausanne erhalten. Pépé lieferte ihnen den Heroinvorrat, mit dem sie auskommen wollten. Denn ein Zweck der Reise war, mit den Dosen »herunterzugehen«.

      Der kleine Ort Villefranche liegt in der Nähe von Nice. Sie wohnten in einem Hotel am Hafen. Ihr Zimmer hatte hellblau getünchte Wände und den hübschen Blick auf die Bucht. Die Tage waren sehr milde, Himmel und Wasser schimmerten, vor dem blauen Hintergrund ließen Boote das starke Braun ihrer Segel leuchten. Martin und Kikjou waren ein paar Tage lang glücklich. Sie liebten den Ort mit seinen engen und stillen Gassen, die steil zum Berg hinaufstiegen und deren Schläfrigkeit sich festlich belebte, wenn ein amerikanisches Schiff anlegte. Dann füllten sich die Pfade, die Bars und die Plätze mit den Matrosen; sonst gab es aber hier nur bleiche Kinder, die schwermütig in der Nase bohrten, und fahle Katzen, die lautlos durch die gehäuften Abfälle huschten. – Martin und Kikjou liebten einander. Sie versprachen, daß sie sich niemals verlassen wollten. Sie waren nicht »heruntergegangen« mit den Dosen, sondern konsumierten reichlicher denn je. Nach acht Tagen war ihr Vorrat zu Ende.

      Sie telegraphierten an Pépé; er antwortete nicht. Sie versuchten ihn telefonisch zu erreichen; umsonst. Vielleicht war er wieder einmal verhaftet worden. Sie liefen zum Apotheker in Villefranche und bettelten um einige Ampullen Morphine. Der Apotheker wurde grob, schrie sie an, mit solchem Gesindel wolle er nichts zu tun haben, und schmiß sie aus seinem Laden. In Nice fanden sie einen, der höflicher war; er verkaufte ihnen aber nur eine kleine Dosis Eucodal und ein paar Pantopon-Tabletten. Das stillte nur den ersten, gierigsten Hunger. Nach ein paar Stunden fing der Jammer wieder an.

      Es war beinah nicht auszuhalten. Sie stürzten wie die Irrsinnigen durch das Zimmer; schrien sich Beleidigungen zu. Beide aufs äußerste gereizt, beide furchtbar erbittert; den halben Tag verbrachten sie in einer Wanne voll heißem Wasser, weil es dort noch am erträglichsten war. Im warmen Naß hilflos aneinandergeschmiegt, schluchzten sie lange. Wie wir leiden! Armer Kikjou! Ärmster Martin! Wie wir leiden müssen! – Abends setzte sich Martin in den Zug nach Marseille. Am nächsten Vormittag kam er mit neuem Vorrat zurück.

      Sie labten sich beide; Kikjou zog das Zeug durch die Nase hoch – er hatte eine nervöse Angst vor dem Einstich der Spritze – während Martin sich die Injektion »intravenös« – nicht »subkutan« – in den Arm applizierte. Dazu bedurfte man eines gewissen Talentes und langer Übung. Der Arm wurde abgebunden, wie zu einer Operation. Das Instrument, dessen Nadel in der Ader steckte, füllte sich mit schäumend-trüber, roter Flüssigkeit: es war Blut, Martins Blut – Kikjou beobachtete den Vorgang mit Ekel und Interesse. Die Wirkung war, dank der intravenösen Injektion, wesentlich stärker und schockhafter. Martin, übermüdet von der nächtlichen Reise, betäubt von der Droge, verfiel in sehr schweren Schlaf. Auch Kikjou, der mehr als gewöhnlich durch die Nase hochgezogen hatte, schlief ein. Als er Stunden später erwachte, fand er den Freund neben sich, weiß im Gesicht und ganz leblos. Er hielt ihn für tot und schrie leise auf. Kurz entschlossen schrieb er einen Zettel – »Ohne dich kann ich nicht leben! Niemals!« – und schluckte neun Veronaltabletten, um möglichst schnell seinerseits zu sterben. Pathetische Mißverständnisse, wie im letzten Akt von Romeo und Julia – den armen Kikjou hätten sie leicht das Leben kosten können. Er wurde gerettet; ein Arzt kam herbei, es war vier Uhr morgens, der Doktor schimpfte, aber er pumpte Kikjou den Magen aus.

      Nun hatte Kikjou genug. Er hatte dem Tod ins Auge geblickt, um Martins willen, seine Geduld war am Ende, er rief aus: »Alles, was wir tun, ist Greuel und Schande. Ich verlasse dich, Martin. Morgen beginne ich eine Entziehungskur, die ich durchzuführen gedenke. Dich schaue ich nicht mehr an, ehe auch du völlig los bist von der chose infernale. Dies ist Teufelsdreck!« Er schleuderte ein Paketchen mit dem kostbaren Heroin aus dem Fenster. Martin raste, teils wegen der vergeudeten Droge, teils weil der Geliebte ihn verlassen wollte. »Das kannst du nicht tun!« heulte er auf; unklar blieb, worauf es sich bezog.

      Sie standen sich vor der hellblau getünchten Wand gegenüber, zwei kampfbereite Jünglinge, beide zitternd, beide mit weißen Lippen.

      »Ich kann es!« schrie Kikjou. »Denn ich will leben. Gott hat mich nicht dazu geschaffen, daß ich mich zugrunde richte. Was wir treiben, das ist die Sünde wider den Heiligen Geist.«

      »Unsinn!« Martin war aufs äußerste erregt und zornig. »Gesteh doch gleich, daß du mich nicht mehr liebst! Habe doch den Mut, es mir ins Gesicht zu sagen! Ich aber liebe dich noch.« Es klang schrecklich, wie eine Kampfansage. »Und ich lasse dich nicht. Du kannst mich nicht töten.«

      Kikjou, etwas leiser: »Ehe ich mich von dir töten lasse …« Dann scheuchte er Martin, der sich ihm nähern wollte, von sich, wie man einen bösen Geist verscheucht.

      Beide fühlten: diesmal war es ernst. Sie hatten sich mancherlei dramatischen Spaß und viel hysterisches Amüsement gegönnt. Diesmal ging es ums Ganze. Die Pantomime ihres bitteren Abschiedes hatte sich vom Hintergrund der hellblauen Wand gelöst. Nun wurde sie vor dem geöffneten Fenster zu Ende gespielt; dahinter leuchtete das Meer mit den braunen Segeln. – Keine Umarmung mehr; kein Gruß mehr; stummes, blindes Auseinandergehen.

      Martin kehrte alleine nach Paris zurück.

      7

      Marion setzte sich durch.

      Es war nicht leicht gewesen; mit dem Erfolg ihres ersten Pariser Abends war keineswegs schon etwas Wesentliches erreicht. Applaus von ein paar hundert Freunden oder Gesinnungsgenossen – das bedeutet nicht viel. Eine literarische Rezitatorin findet auf die Dauer kein Publikum; dies bekam Marion immer wieder zu hören. Die Leute gehen ins Kino; kaum sind sie in ein Theater zu bringen; ganz gewiß nicht in einen Saal, wo eine Schauspielerin ohne Engagement Verse von Goethe und Hölderlin spricht. »Und überhaupt: welches Wirkungsgebiet kommt für Sie in Frage, da Sie in Deutschland selber nicht auftreten dürfen? Die paar tausend Emigranten werden Ihre Säle nicht füllen …«

      »Es gibt Länder, wo man mich verstehen wird«, sagte Marion zuversichtlich. »Es gibt die Schweiz, Holland, Österreich, Skandinavien, die Tschechoslowakei …«

      Sie ließ sich nicht einschüchtern oder mutlos machen. Zunächst veranstaltete sie noch einige Abende in Paris, trat auch in politischen Versammlungen auf. Dann wurde in Straßburg ein literarisches Kabarett eröffnet, dessen Attraktion sie zwei Monate lang war. Von dort aus fuhr sie nach Zürich, wo sie im Rahmen einer politisch-satirischen Revue vier Gedichte rezitierte, zwei klassische und zwei moderne. Sie war beim Publikum bald so beliebt, daß drei eigene Abende, die sie selbst riskierte, starken Zulauf hatten. Daraufhin bewarben sich um sie die Bühnen verschiedener Schweizer Städte. Auch aus Österreich und der Tschechoslowakei kamen Angebote. Sie lehnte ab. Es lockte sie nicht mehr, schien ihr kaum noch lohnend, Ehebruchskomödien oder die Maria Stuart zu spielen. Das Repertoire der Stadttheater oder privaten Bühnen interessierte sie nicht; es hatte zu wenig Zusammenhang mit den Dingen, die ihr Herz und ihren Geist beschäftigten. Ihr Ehrgeiz war in anderer Richtung fixiert. Sie wollte politisch wirken. Sie glaubte eine Sendung zu haben, und mit stolzem Glück spürte sie: ›Ich bin ihr gewachsen.‹

      Am meisten war ihr an den eigenen Abenden gelegen, deren Programm sie allein bestimmte. Mit einem Kabarett oder einem Revuetheater schloß sie nur dann ab, wenn man ihr die Auswahl der Gedichte, die sie bringen wollte, ohne Vorbehalt überließ. Viele der Direktoren machten anfangs Einwände. Bald aber stellte sich heraus, daß sie »zog«; daß um ihretwillen die Leute kamen und das Haus immer voll war, wenn Marion von Kammer angekündigt wurde. Man räumte ihr also die Freiheiten ein, auf denen sie bestand.

      Sie gab Abende in Zürich, Basel, Bern, St. Gallen, Luzern, Olten und anderen Orten der Schweiz. Ihre stärksten Erfolge hatte sie in der Tschechoslowakei. In Prag, Brünn und Preßburg, Karlsbad und Marienbad wurde sie vom Publikum und von der Presse gefeiert. »Die antifaschistische Jungfrau von Orléans am Vortragspult!« schrieb ein Prager Literat über sie. Zunächst meinte er es wohl ironisch; aber Marions Bewunderer griffen die Wendung auf, und schließlich benutzte sie sogar ihr Manager in seinen Annoncen. – Im Sommer 1935 arbeitete sie in den böhmischen Badeorten; dann wieder in der Schweiz,