Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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waren bei Herrn Ottinger eingeladen?« erkundigte sich der Herr, um eine Nuance freundlicher.

      »Natürlich«, bestätigte Tilly geschwind. »Ich bin sehr oft dort, beinahe jeden Tag. Frau Ottinger ist immer sehr freundlich zu mir. Auf keinem ihrer musikalischen Jours darf ich fehlen …«

      Der Beamte schnitt ihr das Wort ab. »Das gehört nicht zur Sache!« – obwohl ihn doch gerade dieser Klatsch aus den besseren Kreisen lebhaft interessierte.

      Das Verhör, das Tilly über sich ergehen lassen mußte, zog sich noch eine Weile hin. Der Beamte erledigte es mit Gewissenhaftigkeit; trotzdem war von Anfang an deutlich, daß er mit dem jungen Mädchen milde verfahren würde. Sein geübter Instinkt hatte begriffen, daß ihre Angaben mindestens zum größten Teil der Wahrheit entsprachen. Er notierte sich ihre Geburtsdaten, den Namen ihrer Mutter und die Adresse. Als sie ihm gestand, daß sie mit einem Ungarn verheiratet war, ward sein Gesicht noch ernster und fast ein wenig verwirrt. Er erinnerte sich wohl der heuchlerischen Angaben, die sie vorhin über Jugendfreundschaft und Verlobung mit dem nackten jungen Mann gemacht hatte. Außerdem fand er ihren exotischen Namen übertrieben schwer auszusprechen. Abschließend sprach er, tadelnd, aber nicht ganz ohne väterliches Wohlwollen: »Es macht immerhin einen merkwürdigen Eindruck – eine verheiratete junge Frau mit einem Fremden im Zimmer …« Dann zuckte er die Achseln, als wollte er sagen: Was geht es mich schließlich an? – und wendete sich an Ernst.

      Der hatte sich inzwischen in das zweite, unbenutzte Bett gelegt. Das peinliche war, daß er sich stellte, als wäre er schon wieder eingeschlafen. Eine hoffnungslose, absurde kleine Komödie – da er ja gerade noch, nackt und wach, durchs Zimmer geschritten war. Der Beamte ließ sich überhaupt nicht auf sie ein. Zwischen ihm und Ernst begann der schreckliche Dialog.

      »Ihren Paß, bitte!« – Ernst, den Schlaftrunkenen mimend: »Wie beliebt?« – Der Beamte, entschieden schärfer: »Ihren Paß!« – »Den habe ich nicht bei mir.« – »Wo haben Sie ihn!« – »Bei … bei Bekannten …« – Der Beamte, sehr höhnisch: »Bei Bekannten, aha!« Plötzlich auf ihn losfahrend: »Sie besitzen wohl gar kein gültiges Ausweispapier?!«

      Nun versuchte Ernst sein Glück mit einer wehleidigen Miene und mit einer etwas künstlich pathetischen Sprechweise. »Herr Kommissar – jetzt sage ich Ihnen die ganze Wahrheit. Mein Paß ist abgelaufen. Ich habe auch keine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Ich bin ein politischer Flüchtling.« – Daraufhin der Beamte, höflich, aber bestimmt: »Stehen Sie auf und kommen Sie mit mir!« Ernst sagte noch, völlig sinnloserweise: »In Berlin bin ich eine Art von Kollege von Ihnen gewesen – auch von der Polizei … Ich bin unschuldig in diese Lage gekommen …« Der Herr blieb unnahbar. »Das können Sie alles auf der Wache erzählen. Ziehen Sie sich an!«

      Tilly mischte sich ein. »Wenn ich vielleicht für meinen Freund irgendwie garantieren könnte …« Auf diesen Vorschlag hin hatte der Beamte nur eine abwinkende Gebärde und einen Blick, der mehr gelangweilt als böse war. Ernst hatte damit begonnen, sich anzuziehen. Während er in die Socken fuhr – dicke, gestrickte Wollsocken, mit Löchern an den beiden Stellen, wo die großen Zehen sitzen – wollte er wissen: »Muß ich gleich wieder über die Grenze?« Seine Stimme kam schleppend, sein Gesicht sah sehr grau und müde aus. – »Das werden Sie alles erfahren«, sagte der Beamte.

      Ernst stand schon in seinen Kleidern da. Der Beamte erkundigte sich – mehr der Form halber und sehr verächtlich: »Gepäck ist wohl nicht vorhanden?« Ernst schüttelte betrübt den Kopf. Er schien nicht verzweifelt, nicht einmal erregt; nur angewidert und traurig. Was ihm jetzt widerfuhr, war keine Sensation, kein Abenteuer. Er mußte stets damit rechnen, und es war schon gar zu häufig erlebt worden.

      Mehr erschüttert war Tilly. Während Ernst schon von ihr fort und zur Türe ging, rief sie ihm flehend zu: »Wenn ich dir nur irgendwie behilflich sein könnte! Bitte, ruf mich an, sowie du weißt, was mit dir geschieht, oder laß mich anrufen!« Er nickte schweigend. Der Beamte deutete durch strenges Räuspern seine Ungeduld an. Tilly – um Ernst nur noch einen Augenblick zurückzuhalten – brachte hervor: »Laß mich bitte nicht ohne Nachricht! Ich warte auf eine Nachricht von dir!«

      Der Beamte hatte die Türe geöffnet. Da rief Ernst und versuchte ein Lächeln: »Adieu, Mädchen! Es ist hübsch gewesen! Adieu!« Er hob die Hand, um zu winken. So hebt sie einer, der schon nicht mehr in diesem Zimmer steht, sondern weit entfernt … Der Beamte ließ ihm mit einer etwas schauerlichen Höflichkeit den Vortritt. Hinter ihnen schloß sich die Türe. Und Tilly, die leise aufschrie, begriff: ›Den sehe ich nicht mehr wieder. Auch Nachrichten kommen nicht mehr von ihm. Der ist weg. Den sehe ich nicht mehr.‹

      Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Dabei kämpfte sie gegen den Asthmaanfall. – ›Bleibe bei mir! Bitte, geh nicht fort! Ich habe mich so lang nach dir gesehnt – nun darf es nicht so schnell vorüber sein!‹

      Ein paar Minuten später ertappte sie sich dabei, daß sie an sich selbst und ihre Zukunft dachte. ›Wahrscheinlich werde ich nun auch ausgewiesen. Nur dem Umstand, daß ich die Ottingers kenne, verdanke ich es, daß er mich nicht sofort mitgenommen hat … Wohin gehe ich dann? Nirgends kriege ich doch Aufenthaltserlaubnis … Meinst du, es ist ein Vergnügen, ohne Paß durch Europa zu ziehen?‹ – Da hörte sie wieder die Stimme ihres Geliebten, der jetzt dem Beamten auf die Wache folgen mußte. Als sie daran dachte, konnte sie sich nicht rühren, vor Erbarmen, Traurigkeit und Liebe.

      Eine halbe Stunde später war sie angezogen und verließ das Zimmer, um hinunterzugehen. Mitten auf der Treppe blieb sie stehen. Beinah wäre sie umgesunken. Ihr war übel, alles drehte sich vor den Augen. ›Hoffentlich bekomme ich einen Kaffee‹, war alles, was sie noch denken konnte.

      In der Schankstube sah es traurig aus. Alle Stühle waren auf die Tische gestellt, mit den Beinen nach oben. Ein unfrisiertes Mädchen hantierte mit Besen und Tuch. Die Fenster waren weit aufgerissen; eisige, graue Morgenluft kam herein. Trotzdem blieb der Geruch nach altem Zigarrenrauch und vergossenem Bier zäh im Raum.

      Nein, sagte die Unfrisierte – der Kaffee war noch nicht gemacht. »Um sieben Uhr wird er fertig sein. Sie können ja warten.«

      Vor sieben Uhr hatte Tilly ohnedies keinen Zug nach Rüschlikon. Sie setzte sich hin, um zu warten. ›Was wird die Mutter sagen, wenn ich frühmorgens ankomme? Ich muß mir irgendeine gute Ausrede einfallen lassen, um sie zu beruhigen …‹ Jetzt war sie aber viel zu müde, um die gute Ausrede zu finden.

      Das Mädchen, während sie den Staub von den Schränken wischte, bemerkte: »Die Polizei war ja hier.« – Tilly, die Stirn in den Händen, murmelte: »Das habe ich bemerkt.« Ihr war furchtbar krank und elend zumute.

      Das Mädchen, den Besen zornig erhoben wie eine Waffe, erklärte: »Sie erwischen immer die Falschen. Unsereiner muß immer dran glauben. Den großen Halunken geschieht nichts. Die kommen durch.« Sie schwang den Besen, als wäre er eine Lanze – ein leichter, tödlicher Pfeil, den die Zürnende der ungerechten Welt ins Antlitz schleudern wollte.

      Das Leben hat viele Inhalte, und es bringt mit sich mancherlei Erschütterungen. Niemals wird es nur von einem Ereignis, von einem Umstand bestimmt. Die Emigranten denken nicht immer, nicht ohne Unterbrechung daran, daß sie sich im Exil befinden und ein gewisses Regime in der Heimat hassen oder sogar bekämpfen. Nicht stets und pausenlos können sie »Emigranten im Hauptberuf« sein – es wäre gar zu quälend und übrigens einfach langweilig. Zwar ist ihr Leben weitgehend beherrscht von der einen großen, alles verändernden Tatsache: dem Exil. Indessen hören einige große Gefühle nicht auf, das Menschenherz zu beschäftigen: Ehrgeiz und Liebe, Einsamkeit und Hunger, Freundschaft und die Angst vorm Tode – oder die Sehnsucht nach ihm …

      Die Zeit vergeht, im Exil wie zu Hause. Menschen finden sich und verlieren sich; haben Erfolge oder Mißerfolge; werden krank, verfallen Lastern, werden wieder gesund oder sterben; verwelken oder blühen auf.

      Meisje zum Beispiel – das ährenblonde Kind halb holländischer, halb deutscher Abkunft; erst als Gärtnerin, dann als Krankenschwester ausgebildet – war aufs erfreulichste erblüht und jeden Tag immer noch ein wenig schöner geworden. Sie hieß nun Frau Dr. Mathes und hatte eine Stellung als Nurse in einem englischen Krankenhaus zu