»Natürlich nicht«, sagte Tilly.
Daraufhin schlug er vor: »Wir könnten ja in ein kleines Hotel gehen.«
Nun meinte Tilly doch, sich ein wenig entrüsten und die empfindliche Dame spielen zu müssen. »Was fällt Ihnen ein!« Sie versuchte, ihre Stimme spitz zu machen. Es mißlang. Sie lächelte.
Er nahm ihren Arm. »Ich dachte nur – weil es so regnet …«
Sie wurde gleich wieder mitleidig. »Und Sie haben gar keinen Mantel! Mein Gott, Sie werden ja pudelnaß!« – Er trippelte vorsichtig unter dem aufgespannten Regenschirm, den sie hielt. Mit seinem hochgeschlagenen Rockkragen, das triefende Haar in der Stirne, sah er ziemlich erbarmungswürdig aus. Aber er lachte. »Ich fühle mich wohl … Sauwohl fühle ich mich!« Er drängte den Körper an sie, sein nasses Gesicht war nahe an ihrem.
Sie sprach nachdenklich: »Ich weiß ein kleines Hotel, gar nicht weit von hier. Die Besitzer kennen mich dort … Aber dürfen Sie denn überhaupt in einem Hotel übernachten?« fiel ihr plötzlich ein. »Sie haben mir doch erzählt, daß Ihre Papiere nicht in Ordnung sind.«
Er lachte wieder. »Nein, die sind allerdings ganz und gar nicht in Ordnung. Aber niemand wird sie zu sehen verlangen.«
Sie blieb ängstlich. »Man kann Pech haben, es könnte eine Kontrolle geben. Sie sind hier neuerdings furchtbar scharf hinter den Fremden her.«
»Wenn man nur eine Nacht in einem Hotel ist, wird man nie kontrolliert«, erklärte er zuversichtlich. »Erst die zweite Nacht ist gefährlich.«
»Mir scheint doch, es ist schrecklich gewagt, was wir tun – ganz abgesehen von allem anderen, was es sonst noch ist.« – Sie waren vor dem Hotel stehengeblieben.
Es regnete wieder stärker. Tilly schaute in das gleichmäßig niederfallende, strömende, rauschende Wasser. »Es ist wie eine Sintflut«, sagte sie leise. Und Ernst: »Sie sollte alles wegwaschen – alles wegspülen, das sollte sie. Ersaufen müßte das ganze Pack, etwas anderes verdient es nicht mehr …« Und plötzlich lachend, fügte er hinzu: »Nur wir dürfen übrig bleiben – nur wir zwei!« Er wandte ihr das vergnügte, vom Regen gebadete Gesicht zu.
Sie blieben noch eine Weile nebeneinander unter dem offenen Schirm stehen, als wagten sie sich nicht ins Hotel, oder als fühlten sie sich hier draußen sicherer. Schließlich traten sie ein.
Die Wirtin musterte sie etwas mißtrauisch; stellte jedoch keine Fragen, weder nach den Pässen noch nach dem Gepäck, sondern sperrte ihnen schweigsam ein Zimmer auf. »Numero 7 ist das einzige, das ich heute abend frei habe«, sagte sie mürrisch. Es war ein langer und schmaler Raum, mehr einem Korridor als einer Schlafstube ähnlich. Die beiden Betten standen mit den Kopfenden gegeneinander gerückt; eines neben dem anderen hätte kaum Platz gehabt. Als die Wirtin hinaus war, bemerkte Ernst: »Das sieht auch nicht übermäßig sauber hier aus … Die Flecke an den Wänden stammen von zerdrückten Wanzen«, stellte er sachverständig fest. »Hoffentlich ist keine übrig geblieben. – Wie heißt denn die schöne Wirtin?« – »Ich weiß es nicht, wie sie heißt«, sagte Tilly. – »Hast du mir nicht erzählt, daß du sie kennst?« – »Ja, ich kenne sie. Aber ich habe ihren Namen vergessen.« – »Das scheint ja keine sehr intime Bekanntschaft zu sein.« Ernst war etwas enttäuscht. Er stand vorm Spiegel und trocknete sich den Kopf mit einem Handtuch. Sie bemerkte, daß seine Haare dünn wurden – schütteres Haar, und die Farbe war wie ausgebleicht von vielen Wettern: ein fahles Blond, Stürme und Regengüsse schienen ihm den Glanz genommen und es fast entfärbt zu haben.
»Mir gefällt das Zimmer ganz gut«, sagte Tilly, die hinter ihm stand. »Aber kalt ist es!« Sie schauderte. Ernst hörte, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen. Er wandte sich um. Ihr Gesicht war blaß, rötlich glühte nur die Nasenspitze. »Du hast einen Schnupfen.« Er legte ihr die Arme auf die Schultern. Sie zitterte und wußte, daß es nicht vor Kälte war.
Hilflos sagte sie: »Jetzt gehe ich wohl besser nach Hause …«
Er antwortete gar nicht, sondern zog sie an sich.
Sie versuchte, sich frei zu machen. »Aber ich habe keine Zahnbürste mit, und keinen Pyjama …« – »Ich auch nicht!« Er hielt sie fest. »Wozu brauchen wir eine Zahnbürste …? Kannst du mir vielleicht verraten, wozu wir eine Zahnbürste und einen Pyjama brauchen?«
»Aber es geht nicht … Es geht nicht …« Sie zitterte stärker. Nun fürchtete sie auch, es könnte ein Asthmaanfall kommen. Er hatte die Arme fester um sie geschlossen. Da gestand sie: »Ich war schon so lange nicht mit einem Mann zusammen …«
Er blieb stumm. Sprachlos und lächelnd legte er seine Stirne an ihre. Es vergingen Sekunden – oder viele Minuten, sie wußten es nicht. Das Schweigen hatte schon zu lange gedauert, als er mit gedämpfter Stimme wieder zu sprechen begann. »Komisch sehen die Augen von einem anderen Menschen aus, wenn man sie so dicht vor den eigenen Augen hat! Sie scheinen ganz nah beieinander zu liegen und ganz groß zu werden – wie Eulenaugen … Genau wie Eulenaugen!« wiederholte er erstaunt – und sie mußte plötzlich lachen über dieses Wort. Sie lachte heftig und krampfhaft, ohne aber ihre Stirn dabei von seiner zu lösen. Sie blieben stehen, mit herabhängenden Armen jetzt, und es schien, als wären ihre Stirnen aneinandergewachsen.
»Eulenaugen!« kicherte Tilly. »Ist doch zu idiotisch! Warum sollte ich denn Eulenaugen haben? – Du hast übrigens auch welche … Aber helle Eulenaugen. Helle Eulenaugen sind auch nicht feiner.«
Immer noch lachend zog sie endlich ihre Stirn zurück. Sie tat es mit einer Geste, als müßte sie ihre Stirne wegreißen von seiner, an der sie festgewachsen war. Dabei schrie sie ganz leise und berührte mit dem Zeigefinger ihre Stirn, gerade zwischen den Augenbrauen, als gäbe es dort eine blutige Stelle. Ihr lachender Mund bekam einen klagenden Zug. Es war, als liefe Blut von ihrer Stirn zu den Lippen. Vielleicht schmeckten ihre Lippen das Blut. Vielleicht verzogen sie sich deshalb so schmerzlich und angewidert. Aber sie hörte nicht auf zu lachen.
Rückwärts gehend tat sie ein paar Schritte, die taumelig waren – als wäre sie nicht nur verwundet, sondern auch betrunken. Sie setzte sich auf das Bett, ohne es anzusehen oder den Kopf zu wenden; ihre Augen blieben auf den Mann fixiert.
»Eulenaugen …« wiederholte sie, und ihr kleines Gelächter klang einem Schluchzen sehr ähnlich. »Zu dumm …« Aber plötzlich wurde sie ernst. Eine leichte Röte lief, wie der Widerschein eines vorbeiziehenden Lichts, über ihr weißes Gesicht. Mit einer merkwürdig trockenen Stimme – als wäre ihre Kehle ausgedörrt und sie hätte keinen Speichel mehr im Munde – sagte sie: »Ich glaube überhaupt, daß ich es gar nicht mehr kann.« Ernst, der noch immer mitten im Zimmer stand, fragte, seinerseits plötzlich heiser: »Was solltest du nicht mehr können?« – Da erwiderte sie, schamlos und sanft, mit einer zugleich traurigen und verlockenden Gebärde zu dem nicht sehr sauberen Bett: »Das … Ich habe es sicher schon ganz verlernt …«
Er lächelte nicht; sein Gesicht blieb ernst, und es gab einen beinah zornigen, brutalen Zug um seinen Mund, als er sagte: »Das verlernt man nicht.«
Er war bei ihr und bog ihren Oberkörper nach hinten. Sie ließ es geschehen, Angst und Krampf waren fort. Sie bekam den Blick eines Kindes, das sich verirrt und sehr viel Schrecken ausgestanden hat – nun aber ist es dort angekommen, wo es keine Gefahren mehr gibt: keine Gefahren mehr für diesen schönen Moment. Es darf die Glieder lockern, den Mund hinhalten, auch die Augen dürfen sich endlich schließen. Nachgeben dürfen, stillhalten dürfen, diese Liebkosungen annehmen und erwidern dürfen. Dies ist die Stunde, liebe arme Tilly, die dich entschädigen und trösten soll für viele Monate und mehrere Jahre, da du einsam warst und wenig Freude kanntest. Nun entschädigt und tröstet sich dein atmender, erbarmungswürdiger, hilfloser, schöner Körper. Es trösten und entschädigen sich dein Mund, dein Haar, in dem seine Finger spielen, deine Füße, die so müde gewesen sind, deine Hände, die auf den Tasten der Schreibmaschine oft