Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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in einer Atmosphäre begonnen, die grundverschieden von derjenigen war – oder doch zu sein schien – die jetzt ihn und ein Dutzend von Kameraden wie zu einem verschwörerischen Zirkel verband. Die erbitterte Opposition gegen das reaktionär-bigotte Milieu einer französischen Bourgeoisfamilie, aus der er stammte, hatte sich zunächst nur als bissig-melancholische Aufsässigkeit und als eine etwas puerile Neigung zu bohèmehaften Exzentrizitäten geäußert. »Mein Vater«, pflegte Marcel zu konstatieren, »war ein degeneriertes Schwein. Nach außen der gute Patriot, le bon citoyen, ehrbar, allgemein respektiert; in Wahrheit: versoffen, faul, lasterhaft. Er haßte meine Mutter. Das dürfte der einzige menschliche Zug an ihm gewesen sein, und übrigens das einzige Gefühl, das ich mit ihm gemeinsam hatte. Leider fehlen mir die Beweise dafür, daß der Herzschlag den alten Schurken im Bordell der reichen Spießer, Rue Chabanais, getroffen hat. Madame Poiret behauptet, er sei nach einem Diner mit Geschäftsfreunden bei Larue vom Tode ereilt worden, was übrigens eine mindestens ebenso unappetitliche Vorstellung ist. Madame Poiret ist eine Hyäne. Sie hat alle schlechten, niederträchtigen Eigenschaften. Sie ist frömmlerisch; pathologisch geizig; grausam bis zum Sadistischen; intellektuell minderbegabt bis zum Idiotischen; boshaft, hysterisch, ohne einen Funken Humor, ohne eine Spur von echter Sympathie für irgendein lebendes Wesen. Madame Poiret«, sagte Marcel abschließend, »ist ein Scheusal.«

      Der Haß gegen seine Mutter, die für ihn die Bourgeoisie und besonders die französische Bourgeoisie repräsentierte, bestimmte seine Entwicklung. Er perhorreszierte das Christentum, weil Madame Poiret zur Messe ging. Er trieb sich mit Amerikanern, Chinesen und vorzugsweise mit Deutschen in den Nachtlokalen von Montmartre und Montparnasse herum, weil Madame Poiret alle Ausländer für Barbaren hielt, von den Deutschen niemals anders als »les sales boches« sprach und der Ansicht war, daß die Nachtlokale eine infame Erfindung des Teufels, des deutschen Kaisers und der Bolschewisten seien, um die französische Nation zu korrumpieren. Er ging niemals vor vier Uhr morgens schlafen und betrank sich jede Nacht mit Whisky und Gin, weil seine Mutter sich um neun Uhr in ihr Zimmer zurückzog, um halb zehn Uhr das Licht löschte und die Namen der starken angelsächsischen Alkoholika nur mit ekelverzerrtem Gesicht, übrigens höchst fehlerhaft, aussprechen konnte. Aus tiefer Aversion gegen das ein wenig altmodisch-tadellose Französisch, in dem Madame Poiret sich ausdrückte, hätte der Sohn am liebsten nur noch englisch, deutsch oder russisch geredet. Zu seinem Leidwesen war er total unbegabt für fremde Sprachen. Er tat sein Bestes, die Mutter und ihre Freundinnen zu schockieren, indem er seine Konversation mit Unflätigkeiten würzte und, soweit dies irgend anging, den Jargon der Pariser Unterwelt kopierte. Er kleidete sich halb rowdyhaft, halb im Stil der Oxford-Studenten: in grellfarbige, übrigens kostbare Stoffe. Der Zwanzigjährige wurde zum deklarierten Liebling einer fragwürdig-bunt zusammengesetzten Gesellschaft, die im Paris des ersten Nachkriegsjahrzehntes ihr seltsames Wesen trieb; zum umworbenen Enfant terrible jener zugleich exklusiven und phantastisch gemischten Zirkel, in denen whiskysüchtige Halbgenies aus New York sich mit brasilianischen Abenteurern, hemmungslos gewordene Aristokratinnen sich mit den Stars der russischen oder schwedischen Ballette, mit opiumrauchenden Lyrikern, Negerboxern und reichen Berliner Snobs trafen. Marcel Poiret amüsierte sich ein wenig in dieser »monde«; verachtete sie; wurde von ihr verhätschelt; schilderte und verhöhnte sie schließlich in seinem ersten Roman. Vielleicht war es vor allem seine schlechte Gesundheit, die ihn davor bewahrte, sein Talent und seine rebellischen Instinkte auf die Dauer an eine Existenz zu verschwenden, die ihm nur reizvoll schien, weil sie seiner Mutter ein Greuel war, und deren wesentliche Inhalte die Cocktails und die mannigfachen Formen des Beischlafes waren. Mit seiner Lunge war nicht alles in Ordnung. Er fieberte; die Nächte in den raucherfüllten Atelierwohnungen und in den Bars bekamen ihm nicht. Aus bitterem Trotz, aus Traurigkeit, Ratlosigkeit und verspieltem Zynismus wütete er gegen den eigenen Körper. Er war drauf und dran, sich zugrunde zu richten. Immerhin hatte er vitalen Selbsterhaltungstrieb genug, um Schluß mit der abwechslungsreich-makabren Daseinsform zu machen, als er in den Cafés von Montparnasse und den Studios seiner New Yorker Freundinnen mehrfach Blut zu spucken begann. Die Ärzte rieten ihm zu Davos. Er mußte nun jedes Jahr ein paar Monate dort sein. Dort lernte er die Einsamkeit kennen. Sie machte ihn vertraut mit anderen Freuden, anderen Wonnen, Beängstigungen, Erkenntnissen, Zweifeln, Qualen und Ekstasen als die Cocktailparties und komplizierten Orgien. – Im Jahre 1929 kam Marcel Poiret zum ersten Mal nach Berlin, um für eine literarische Gruppe Vorträge über den Marquis de Sade, Baudelaire und Rimbaud zu halten. Er hatte Marion gleich am zweiten Abend ihrer Bekanntschaft gesagt: »Wenn du mich nicht mit Brutalität und Geschicklichkeit abschüttelst, bleibe ich bei dir. Ich brauche einen Menschen wie dich. Aber ich kann dir gar nichts bieten. In meinem Kopf sieht es furchtbar wüst aus. Oft habe ich so große Angst davor, daß ich verrückt werden muß. Vielleicht bin ich es schon. Ich habe zu hassen gelernt, ehe ich zu lieben gelernt habe …«

      Marion und Marcel kamen durch die Drehtüre des Cafés. Zwischen sich hatten sie einen jungen Menschen, der kleiner und schmaler war als Marcel und ihm übrigens auffallend ähnlich sah. Marcel sagte: »Et voilà Kikjou – mon petit frère.« David Deutsch war einen Augenblick lang recht erschrocken über die Tatsache, daß Marcel einen Bruder präsentierte – ›und aus seinen Büchern scheint doch hervorzugehen, daß er keine Geschwister hat‹, dachte er. – »Il est beaucoup plus gentil que moi«, sagte Marcel, einen Arm um die Schulter des Jungen gelegt, den er Kikjou nannte. Dann umarmte er die Schwalbe, wobei er sie ausführlich auf beide Wangen küßte. Marion und Martin lachten. »Idiot!« sagte Marion – und Martin, erklärend zu David Deutsch: »Er hat natürlich nie einen Bruder gehabt. – Aber sie sehen sich wirklich ähnlich«, fügte er hinzu und schaute mehrere Sekunden lang, schläfrig-neugierig, aufmerksam und zärtlich den Fremden an.

      Kikjou, der kleine Bruder Marcels: warum nicht? Sie hatten gemeinsam: vor allem den hohen, dunklen, kühn und reizvoll gespannten Bogen der Brauen über den weit geöffneten, hellen Augen; die etwas zu dicken, ein wenig aufgeworfenen, stark roten Lippen, die in der Blässe ihrer Gesichter wie geschminkt wirkten; die breite, niedrige Stirn, in die das Haar üppig wucherte. Kikjous Haar hatte einen mattgoldenen, fast honigfarbenen Ton; Marcels dickes Gelock war von fahl nachgedunkeltem Blond. Marcels Augenbrauen waren stark und etwas buschig, während diejenigen Kikjous wie mit einem Kohlestift gezeichnet schienen.

      Sie hatten beide die rundgeschnittenen, weitgeöffneten Augen von unbestimmbarer Farbe, aber in Marcels Augen gab es das stärkere Leuchten. Es waren erstaunliche Augen, kindliche Augen, etwas wahnsinnige Augen, verführerische, rührende, unschuldige und, auf eine geheimnisvolle Art, furchtbare Augen, von einer hoffnungslos traurigen und sinnlichen Glut. Die Augen des Jüngeren wirkten sanfter, blasser und weicher. Alles wirkte sanfter, blasser und weicher an Kikjou, le petit frère de Marcel. In seinem Gesicht gab es nur helle Farben. Es war schmaler und empfindlicher geformt und viel glatter als Marcels Gesicht, welches grobknochig schien, mit breiten Wangen und Falten in der Stirn – viel zu tiefen für den Siebenundzwanzigjährigen. Die Mischung aus Kindlichkeit und Ramponiertheit charakterisierte das Aussehen Marcels; eine wüste Kindlichkeit war ihm eigen. Er wirkte sechzehnjährig und unendlich alt; unberührt und vielfach gezeichnet von den abenteuerlichsten, tiefsten und wirrsten Erfahrungen. Kikjous Stirne war wie aus Perlmutter geformt, sie hatte ein mattes Leuchten. Kikjou war auffallend hübsch – zu hübsch, anstößig hübsch für einen jungen Mann; Marcel beinahe häßlich, aber reizbegnadet in einem bestürzenden, fulminanten, wahrhaft sensationellen Grade. Die Kellnerin, die ihm den Tee servierte, konnte sich diesem Charme, der durch seine Heftigkeit beinahe weh tat, ebensowenig entziehen wie der Arzt, der seine Lunge untersuchte, oder der alte Literaturkritiker, der dem exzentrischen Dichter mit der felsenfesten Absicht entgegentrat, ihn unausstehlich zu finden. Nun stellte sich heraus, daß er unwiderstehlich war … Marion, Martin, David Deutsch und die Schwalbe empfanden alle vier genau dasselbe, als sie Marcel Poiret wiedersahen: ›Mein Gott – ich hatte doch bis zum gewissen Grade vergessen, wie schön er ist. Er ist schön.‹

      Poiret hatte die Schwalben-Mutter, in deren Berliner Lokal er oft gewesen war, seit ihrer Ankunft in Paris noch nicht gesehen. Er versuchte deutsch mit ihr zu reden; es kam ein konfuses Kauderwelsch dabei zustande, durchsetzt mit englischen Brocken – Marcel neigte dazu, die beiden Sprachen miteinander zu vermischen. »Poor Berlin!« rief er aus – sie waren vom Boulevard St.-Germain in die lange traurige Rue de Rennes eingebogen und gingen nun Richtung Gare de Montparnasse, in zwei Dreierreihen: voran Marcel, David und die Schwalbe;