Martin, dessen Arm immer noch um Marions Schulter lag, sagte nachdenklich: »Die Frage ist nur, ob diese Weltempörung lange anhalten wird. Die Menschen vergessen so schnell, und es kommen andere Sensationen. In fünf Jahren würden wir uns vielleicht freuen, wenn die Leute noch beim Anblick von Berliner Zeitungen in Wut geraten …«
Die Grauhaarige schlug vor: »Jetzt wollen wir aber zunächst mal was essen, Kinder! Das gute Zeug wird ja kalt. Mein Schnitzel sieht wundervoll aus!« Sie sagte »mein Schnitzel«, obwohl doch noch gar nicht die Rede davon gewesen war, wie die Gerichte verteilt werden sollten. – »Mutter Schwalbe hat immer recht«, konstatierte Martin Korella und beschenkte die resolute Alte mit einem langen, zärtlich siegesgewissen Blick aus den schläfrig verhangenen Augen. »Essen wir also!« – David erklärte geschwind: »Ich bin nicht sehr hungrig und nehme das Omelett, wenn ich darf.« – Er hatte eine seltsame Manier, sich beim Sprechen mit einem schiefen Ruck der rechten Schulter seitlich zu verneigen; dabei verzerrten sich seine ungesund bläulich gefärbten Lippen zu einem liebenswürdig angstvollen Lächeln. Es war eine rührende und etwas groteske, zugleich mitleiderregende und erheiternde kleine Höflichkeitspantomime.
»Ich lasse mir den Appetit nicht verderben!« erklärte Mutter Schwalbe, schon mit ihrem Schnitzel beschäftigt. Und David, dem man das nicht sehr verlockend aussehende harte kleine Omelett überlassen hatte, bemerkte schüchtern: »Ich finde es hübsch hier … Dieses kleine Lokal gefällt mir. Und daß wir vier hier so beieinandersitzen … Ich habe es mir in Berlin oft gewünscht«, gestand er, und über sein wächsern zartes Gesicht zog eine flüchtige, helle Röte. »Manche Wünsche gehen unter recht merkwürdigen Umständen in Erfüllung – ganz anders, als man es sich ursprünglich vorgestellt hatte …« Seine rehbraunen, kurzsichtigen Augen wanderten zwischen Marion, Martin und der Mutter Schwalbe hin und her, ehe sie sich, bescheiden und ängstlich, senkten.
Man schrieb den 15. April 1933. Die vier Deutschen – Marion von Kammer, Frau Schwalbe, Martin Korella und David Deutsch – waren alle erst im Lauf der letzten zwei Wochen in Paris eingetroffen; zuletzt die Schwalbe, für die es nicht ganz einfach gewesen war, ihren Berliner Betrieb aufzulösen. Ihr hatte ein kleines Etablissement, halb Restaurant und halb Kneipe, gehört, in dem sie als Köchin, Empfangschef und Mädchen für alles tätig war. Das Lokal »Zur Schwalbe« war nicht weit von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in einer Nebenstraße des Kurfürstendamms gelegen, und hatte sich einer starken Beliebtheit in gewissen Zirkeln der Berliner Jugend erfreut. Leute mit keinem anderen Kapital als ihrem Ehrgeiz und ihrer radikalen Gesinnung, Studenten, angehende Literaten, Maler, Schauspieler hatten sich wie in einem Klub bei »Mutter Schwalbe« zusammengefunden, um dort über Marxismus, atonale Musik und Psychoanalyse zu diskutieren und auf Kredit Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat zu essen. Die Schwalben-Wirtin war, mit einer dicken Zigarre im Mund, zwischen den Tischen umhergegangen, hatte alle gekannt, allen auf die Schulter geklopft und zuweilen einen furchtbaren Krach geschlagen, wenn jemand es sich einfallen ließ, reaktionäre politische Tendenzen zu verteidigen, oder gar zu säumig mit dem Bezahlen seiner Schulden war. Als die Hitler-Diktatur in Deutschland sich etablierte, waren die Stammgäste der Schwalbe auseinandergestoben; viele waren emigriert, andere waren verhaftet worden; wieder andere blieben zwar in Berlin, hielten es aber nicht mehr für ratsam, sich in dem berüchtigten Lokal noch zu zeigen; manche waren sogar – die Schwalbe mußte es mit Bitterkeit konstatieren – zu den Nazis übergelaufen. Im Restaurant und in der Privatwohnung der »Patronne« – zwei Dachstuben, die sich im selben Haus wie die Kneipe befanden – hatte es Razzias gegeben; durch die Protektion eines Jungen in SS-Uniform, der früher zu ihrer Klientel gehört hatte, war der Braven die Verhaftung erspart geblieben. »Und jetzt singen sie jeden Abend das Horst-Wessel-Lied in meiner schönen Bude«, stellte die Schwalbe wehmütig fest. David Deutsch – derartig nervös und übersensibel, daß er auf bestimmte Worte reagierte wie auf die Berührung eines eisigen Windes – schauerte zusammen und bewegte gequält die Schultern. »Das Horst-Wessel-Lied!« wiederholte er und blickte hilfesuchend um sich, als erbäte er von den anderen Trost oder doch mindestens eine Erklärung.
Er war einer der treuesten Gäste der Schwalbe gewesen, während Marion und Martin, sozial entschieden höher gestellt als das eigentliche Schwalben-Publikum, sich nur zuweilen hatten sehen lassen – immer ein wenig wie große Herren, die es manchmal belustigt, in ein inferiores Milieu hinabzusteigen. Die »Patronne« hatte, trotzdem, eine entschiedene Sympathie für die beiden; ja, sie mochte sie im Grunde lieber als den armen David, von dem sie, nicht ohne eine gewisse Verächtlichkeit, zu sagen pflegte: »Ach, der ist ja so entsetzlich gescheit! Der weiß ja alles!«
Marion und Martin waren Jugendfreunde. Marion stammte aus einer sehr guten, Martin aus einer mittelfeinen Familie, übrigens waren sowohl die alten Korellas als auch Marions Mutter, Frau von Kammer, ziemlich verarmt. (Herr von Kammer war vor Jahren gestorben.) Marion hatte als Schauspielerin zwar noch keine großen Erfolge gehabt und war mit fast allen mächtigen Berliner Theaterdirektoren verkracht; aber ihre Leistungen in einigen literarischen Matinée-Aufführungen hatten doch von sich reden machen.
Viele von Marions Freunden gehörten zu den links gerichteten Schriftstellern oder Politikern, die bei den Nazis am verhaßtesten waren und eingesperrt wurden oder fliehen mußten, als, nach der Reichstagsbrandkatastrophe, das terroristische Regime begann. Was Marion betraf, so war für sie die Emigration eine Selbstverständlichkeit. Es hätte der Überlegung gar nicht bedurft, daß nun in Deutschland ihre Freiheit, vielleicht sogar ihr Leben gefährdet waren: der Ekel, der Haß, der Abscheu trieben sie fort. »Leider sehe ich ja zu auffallend aus, und zu viele Leute kennen meine ulkige Visage, als daß ich mich unter die Illegalen hätte mischen können«, bedauerte sie. »Übrigens hätte ich in Berlin beim Anblick einer SS-Standarte – oder wie sie die Banden nennen – auf offener Straße vor Wut gebrüllt. Das wäre mir ja dann wohl kaum sehr gut bekommen.«
Martin Korella war auch einmal Schauspieler gewesen; hatte aber mit maßvollem Bedauern feststellen müssen, daß sein darstellerisches Talent nicht hinreichend war. Er entschied sich für die literarische Laufbahn. Jetzt war er fünfundzwanzig Jahre alt und hatte noch nichts veröffentlicht, außer ein paar Gedichten und kurzen Stücken lyrischer oder essayistischer Prosa, in Zeitschriften und Anthologien. Diesen Arbeiten aber eignete eine solche Schönheit der Form, eine so innig-seltsame Dichtigkeit und Lauterkeit des Gefühls, daß sie ihrem jungen Autor fast so etwas wie Ruhm einbrachten – einen Ruhm freilich, der nur von ein paar hundert Menschen getragen und gewußt wurde. Es gab Leser in Berlin oder in Heidelberg, in München, Wien oder sogar in Paris, die sich in der Überzeugung einig waren, daß Martin Korella ein begnadeter Dichter sei. Martin war hochmütig genug, um ordinären Ehrgeiz gründlich zu verachten. Übrigens war er auch träge. Er schlief bis zum Mittag und verbrachte dann Stunden auf ziellosen Spaziergängen durch die Stadt. Er las wenig und immer wieder nur die gleichen Autoren. Es gab Wochen, Monate, während deren er keine Zeile schrieb. Dafür durfte er sich rühmen: »Etwas Mittelmäßiges ist von mir niemals gedruckt worden.« Seine Eltern machten ihm, so luxuriöser Faulheit wegen, beinahe täglich die bittersten Vorwürfe; waren aber doch heimlich stolz auf ihr originelles Kind und zahlten, unter viel Klagen und Schimpfen, die Monatsrente von zweihundert Mark. Das war keineswegs üppig; aber es ermöglichte Martin, in einer eigenen Stube zu leben, getrennt von Herrn und Frau Korella, die ihm auf die Nerven gingen.
Als Marion ihm mitgeteilt hatte, daß sie Deutschland verlassen werde, war seine Antwort gewesen: »Natürlich komme ich mit.« Sie war erstaunt, übrigens froh im Grunde, über die nachlässige Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Entschluß äußerte – wenn vielleicht auch nicht erst im Augenblick faßte. Sie hielt es für ihre Pflicht, ihn zu erinnern: »Eigentlich sollte nur weggehen, wer muß. Ein paar anständige Leute müssen auch hier bleiben. Du hast dich politisch nie exponiert. Glaube nur nicht, daß wir es draußen so besonders einfach haben werden.« Woraufhin er nur die Achseln zuckte. »Wenn die Deutschen verrückt werden – ich habe keine Lust, da mitzumachen. Warum sollte ich abwarten, bis es zum Schlußeffekt dieser ganzen makabren Veranstaltung kommt? Bis die berühmte ›Apokalypse‹ endlich da ist, auf die alle braven Spießer sich so herzlich zu freuen scheinen …? Übrigens wird diese ›Apokalypse‹ in der Realität genauso mittelmäßig und langweilig ausfallen wie alles, was man uns bisher geboten hat …