Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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klingelten munter die hübsch blau lackierten Trambahnwagen; die großen Limousinen aber glitten in vornehmer Stille über die Avenuen, Plätze, Brücken und Quais; denn: »in Zürich wird nicht gehupt, aber vorsichtig gefahren« – wie breite Spruchbänder an den Stadteingängen und an einigen Verkehrszentren mahnend verkündeten. Auf die Nerven des Publikums wurde jede erdenkliche Rücksicht genommen …

      Liebenswürdig stand der Sommer dieser schönen Stadt zu Gesichte, wie einer hübschen Frau das lichte Kostüm, der breitrandige Strohhut stehen. Die Luft war mild und sehr weich; man meinte sie wie eine Liebkosung auf der Haut zu spüren. Die Konturen der Seeufer verschwammen in einem zartblauen, fast violetten Dunst. Es herrschte Föhnstimmung. Der warme Wind kam vom Gebirge her. Frau von Kammer hatte ein wenig Kopfschmerzen. Sie konnte den Föhn nicht vertragen.

      Seit gestern hatte sie mit niemandem gesprochen, außer ein paar Worte mit dem Mädchen, das vormittags kam, um die Wohnung sauberzumachen. Tilly war verreist: »Ein paar Bekannte« – wie sie sich mit verletzender Ungenauigkeit ausdrückte – hatten sie zu einer Tour eingeladen. Nach dem einsamen Abendessen spazierte Frau von Kammer ziellos durch die Straßen: über den Paradeplatz, die Bahnhofstraße hinauf bis zum Bahnhof; die Bahnhofstraße wieder hinunter bis zum See; über die Quaibrücke bis zum Bellevueplatz. Sie überlegte, ob sie in ein Kino gehen sollte; aber das würde ihre Kopfschmerzen nur noch verschlimmern.

      Auf dem Platz vor dem Stadttheater hatte sich ein Lunapark etabliert; ein Miniaturprater mit »Attraktionen«, Karussells, einer Bierhalle, Russischem Rad, Achterbahnen, Würstelverkäufern und Schießbuden. Von dort her kam der schöne, erregende Lärm, der immer zu den Rummelplätzen zieht: das Kreischen der Kinder und Frauen von all den schaukelnden, fliegenden, kreisenden, durch Finsternis gleitenden, ins Wasser stürzenden Folterstühlen, auf denen merkwürdigerweise Menschen sich freiwillig und zum Vergnügen niederlassen; die monoton-eindringliche Litanei der Ausrufer und Anpreiser, das Geknatter der Schießgewehre, der grölende Chorgesang der Bezechten; die Musik von drei Karussells, unbarmherzig gegeneinander ankämpfend. Es kamen auch die unverkennbaren und unwiderstehlichen Rummelplatzgerüche: Schmalzgebackenes, Türkischer Honig, Schweiß, Brathuhn, Schießpulver, scharfes Parfüm des Zirkus, Erbrochenes, kleine Kinder, Bier, noch einmal Türkischer Honig; und es kam, mit Geräuschen, Gerüchen und flirrenden Lichteffekten, der ganze Zauber, den diese Stätten auf den Einfachsten wie auf den Verwöhntesten üben.

      Vor dem Russischen Rad war das Gedränge am dichtesten. Marie-Luise floh in eine Nebengasse des Barackendorfes, fand sich vor einer Bude und dachte: ›Ich kann ebensogut eintreten und die Attraktionen besichtigen. Hier gibt es zu sehen den »größten Menschen der Erde«, »den finnischen Goliath« – warum denn nicht, es kostet bloß fünfzehn Rappen.‹

      Drinnen herrschte feierliches Halbdunkel. Es befanden sich nur wenig Menschen in dem scheunenartig weiten Raum. Die Stille hier war erstaunlich; eine verwesende Samtportière schien, mit beinah magischer Kraft, jeden Laut von draußen fernzuhalten. Die Augen der Besucherin mußten sich erst an das rötliche Dämmerlicht gewöhnen. Nicht ohne Mühe tappte sie sich zu den schmalen, lehnenlosen Bänken. Marie-Luise glaubte zu bemerken, daß außer ihr noch zwei Kinder anwesend waren, ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen; sie saßen eng aneinandergerückt und hielten sich an den Händen gefaßt. Ihre Münder waren weit geöffnet wie ihre Augen. Sie sahen gar nicht belustigt aus, sondern eher verängstigt.

      In der Tat gab es Anlaß genug, sich zu fürchten. Das Erschreckende an dem jungen Mann, der vor dem öden Scheunenparkett auf dem Podium stand, war nicht so sehr seine schier unglaubliche Körperlänge, sondern die unbeschreibliche, ungeheure, wahrhaft bestürzende Traurigkeit seines Gesichtes. Es war eine sehr runde, sehr kleine, rote, babyhaft verhutzelte, von zahllosen Fältchen melancholisch durchzogene Miene: Marie-Luise meinte noch nie so eine hoffnungslos verzagte gesehen zu haben. Über dem leer-verzweifelten Blick waren die gewölbten Brauen drollig mit dem Kohlestift nachgezogen wie bei einem Clown. Auch die Tracht des Riesen hatte humoristischen Charakter: grünes Tirolerhütchen über der gräßlichen Babyfratze; grell karierte, zu enge Hosen; kurzes rotes Bolerojäckchen. Umso respektabler war der Herr gekleidet, der neben ihm stand und ihm kaum an die Brust reichte, obwohl er einen Zylinderhut trug. Im Gehrock, mit weißen Gamaschen und weißen Handschuhen, sah er wie ein etwas schäbiger Diplomat aus. Mit einem zierlichen, leichten Stab – wie Dirigenten oder Zauberkünstler ihn benützen – wies er, nachlässig-anmutig, auf den Trauerriesen. »Mein junger Freund ist der größte Mensch der Erde«, erklärte der Herr im Gehrock mit müde näselnder Stimme. »In weitem Abstand«, fügte er verächtlich hinzu, »folgt der sogenannte Riese Jack, zweieinhalb Zentimeter kleiner als mein junger Freund.« – Die Aussprache des Eleganten hatte einen feinen, unbestimmbar exotischen Akzent. »Mein junger Freund …« fuhr er fort, »äh …« Und nun schien er vor Langeweile schlechterdings nicht weiterzukönnen. Er gähnte ungeniert und verstummte mehrere Sekunden lang – ehe er einen frischen Anlauf nahm und hastig weiter berichtete: »Mein junger Freund ist zu Helsingfors in Finnland geboren.« Das Wort »Helsingfors« servierte der Gehrock wie eine besondere Delikatesse, alle Vokale auf eine höchst elegante und übrigens völlig willkürliche Art verändernd. »Seine beiden Eltern hatten normale Größe, seine Geschwister waren eher etwas zu klein, er selber war schon im zarten Alter von vierzehn Jahren zwei Meter lang, seine Verlobung mußte auseinandergehen, weil die Braut sich auf die Dauer vor seinem Körpermaß ängstigte, mein junger Freund ist physisch und geistig völlig gesund, seine Lieblingsspeise ist die bekannte dänische rote Grütze, willst du nicht ein Liedchen singen, Gustav?« Der Herr ließ den Zeigestab sinken, wandte sich angewidert von seinem Schützling ab, und, ohne auch nur Goliaths Kopfnicken abzuwarten, verließ er mit hastig trippelnden Schritten, als hätte man ihn beleidigt, das Podium. Der lange Gustav hub zu singen an:

      »Muß i denn, muß i denn

      zum Städtele hinaus …«

      Die Stimme des armen Riesen kontrastierte verblüffend mit dem Format seines Körpers. Es war eine schrecklich kleine, durchaus verkümmerte Stimme, was sich da hören ließ; eine zwergische Stimme – hoch, dünn und piepsend. Ein mißzufriedener Säugling gibt so winzige greinende Töne von sich. »Zum Städtele hinaus …« wiederholte weinerlich die Mißgeburt, und Marie-Luise dachte: ›Warum singt er wohl gerade dieses Lied? Vielleicht ist es seine Lieblingsmelodie, oder er kennt gar keine andere … Schrecklich: er kennt wohl keine andere; dieses Lied ist gewissermaßen alles, was er kann und hat …‹

      »Und du, mein Schatz, bleibst hier …«

      An dieser Stelle kam aus dem dunklen Hintergrund der Scheune ein leiser Schrei. Eine Dame hatte ihn ausgestoßen; nun erhob sie sich hastig; ein klein wenig schwankend bewegte sie sich auf die Ausgangstür zu. Da war es an Marie-Luise, leise zu schreien. Sie erkannte die Dame, es war eine alte Freundin, die schöne Tilla Tibori, eine Schauspielerin.

      Auch Frau von Kammer sprang auf. »Nicht möglich«, rief sie, »du hier, Tilla!« Marie-Luise küßte Tilla auf beide Wangen, hinter ihnen wimmerte das Wunder von Helsingfors noch einmal: »Und du, mein Schatz, bleibst hier …« Nun sang er also nur noch für die beiden Kinder in der ersten Reihe. Diese übrigens hatten, während Marie-Luise und Tilla sich umarmten, ein schrilles kleines Kichern hören lassen – sei es, weil sie die Kußzeremonie zwischen den Damen drollig fanden; sei es, weil der Riese sie amüsierte. Die Kinder, in der Scheune mit Goliath allein gelassen, rückten noch enger aneinander und flüsterten sich zu: »Uii … Jetzt wird’s fein!« – als sollte der Hauptspaß nun erst beginnen, während die Veranstaltung in Wahrheit doch schon ihrem Ende zuging.

      Die Freundinnen standen im Freien; Lärm, Geruch und billiges Gefunkel des Volksfestes empfingen sie. Marie-Luise und Tilla hatten es eilig, den Bezirk des Rummelplatzes hinter sich zu lassen. Zunächst waren sie beide viel zu überrascht von dieser Wiederbegegnung – nach so vielen Jahren! Und in so groteskem Milieu! – um Zeit zur Gerührtheit zu finden. Als sie aber die stillere Seepromenade erreicht hatten, legten sie sich gegenseitig die Arme auf die Schultern und betrachteten sich. Beide mußten denken: ›Mein Gott, die Ärmste – sie ist auch nicht jünger geworden. Und ein Übermaß an Verkehr scheint sie auch nicht gerade zu haben, wenn sie sich alleine zu so traurigen Belustigungen begibt …‹

      Marie-Luise und Tilla waren als