Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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…« brachte das Mädchen hervor. Nun schien sie wirklich keinen Atem mehr zu bekommen. – »Ist er tot?« fragte die Mutter rasch; ihrem temperierten Gefühl hätte einzig und allein eine Todesnachricht Tillys maßlose Reaktion plausibel gemacht.

      Tilly konnte noch sagen: »Nein … Es ist beinah noch schlimmer … Konzentrationslager … Sie haben ihn in ein Konzentrationslager gebracht …«

      Frau von Kammer fand es schwierig, dazu irgend etwas zu äußern. Übrigens verband sie mit dem Begriff »Konzentrationslager« keine sehr genauen, plastischen Vorstellungen. Um doch nicht völlig stumm zu bleiben, sagte sie, etwas matt: »Armer Kerl!« Und fügte hinzu – was sie eine Sekunde später bereute: »Aber warum läßt sich ein begabter junger Mensch auch mit dieser schmutzigen Politik ein? Ich wußte immer, daß es nicht gut ausgehen würde …« – Tilly, die sonst ähnliche Bemerkungen der Mutter zu ignorieren pflegte, war diesmal fassungslos. Während sie schon durchs Zimmer stürzte – auf die Türe zu, in einer Haltung, als fliehe sie aus einem Raum, der in Flammen stand, und als hinge alles, selbst die Rettung Konnis, davon ab, daß sie die Türe in der nächsten Sekunde erreiche – murmelte sie zwischen den Zähnen: »Und sonst hast du mir nichts zu sagen, Mama?!« Ja, das war wohl Haß, was ihr nun die Züge zu einer schlimmen kleinen Grimasse verzerrte und was als ein flüchtiges, aber intensives Funkeln aus ihren Augen kam. Die Hand hatte sie schon an der Türklinke. Jetzt weinte sie endlich. Der Zorn über die Kränkung, welche die arme, ahnungslose Mutter ihr zugefügt, machte die Tränen frei: nun strömten sie ihr reichlich über die kindlich gerundeten Wangen. »In was für einer Welt lebst du denn?!« rief die Schluchzende noch über die Schulter. Dann war sie hinaus.

      Frau von Kammer blieb in sehr aufrechter Haltung am Frühstückstisch sitzen. Sie sah alt aus – älter, als sie eigentlich war. Ihr Haar hatte jene unbestimmte, aschblonde Farbe, von der sich kaum feststellen ließ, ob es schon ergraut oder nur verblichen, glanzlos geworden war. Die Falten zwischen den Brauen und um die gepreßten Lippen hatten sich während der letzten Monate verschärft und vertieft. Der Anblick ihres zu schmalen, zu langen und zu harten Gesichtes, mit den eingefallenen Wangen, der feinen Nase und dem kantigen Kinn, ließ an ein sehr gutrassiges, abgearbeitetes, stolzes und etwas müdes Pferd denken.

      Die Mutter stand seufzend auf. ›Wenn das mit Tillys Asthmaanfällen nun wieder losgeht‹, dachte sie, ›eine schöne Geschichte! – Konzentrationslager … Konzentrationslager … Welch ein Irrsinn!‹ – Sie wollte sich selber nicht zugeben, wie sehr es ihr leid tat, daß sie ihr großes Mädchen nicht tröstend in die Arme geschlossen hatte, anstatt sie durch ihre gefühllose Bemerkung noch weiter zu verletzen.

      Tilly ging tagelang schweigsam, mit bleicher, verstörter Miene umher. Sie war beinah dazu entschlossen, nach Berlin zu fahren, um ihrem Konni zu helfen – auf welche Weise, war ihr selber nicht klar. Sie schrieb dem Kameraden des jungen Bruck – dem Mann, der so geheimnisvoll als »H.S.« signiert hatte – an seine Deckadresse in Prag und erkundigte sich bei ihm, was er von ihrem Reiseplan halte. Er erwiderte, kurz und bündig: Das ist Quatsch. Du kannst dem Jungen nichts nützen und bringst Dich selbst in Gefahr. – Merkwürdigerweise nannte der Unbekannte sie »Du«. Tilly wunderte sich darüber; fühlte sich aber auch geschmeichelt und, auf eine fast sinnliche Art, gereizt. Konnis Freund rechnete sie also zu den Zuverlässigen, den Genossen … Dabei hatte sie sich eigentlich nie für Politik interessiert. Nur um die Abende mit Konni verbringen zu können, hatte sie ihn zu den Meetings begleitet – die tödlich langweilig für sie gewesen wären, wenn er nicht neben ihr gesessen hätte. Sie liebte ihn. Jetzt erst, da sie ihn verloren hatte, ermaß sie es ganz, wie sehr sie ihn liebte und brauchte. Sie dachte immer an ihn, und sie weinte viel. Das ärgste war, daß keine Nachricht von ihm kam – keine Zeile. Erreichten ihn denn die langen Briefe, die sie ihm fast täglich schrieb? Auch der mysteriöse H.S. in Prag hatte seinerseits nichts von Konni gehört: er teilte es Tilly, die ihn brieflich mit Fragen bestürmte, lakonisch mit. – Wie mochte dieser H.S. aussehen? Tilly beschäftigte sich zuweilen mit der Frage. Seine Handschrift war sympathisch, übrigens recht kindlich steif und steil. Er hatte eine unbeholfene, aber kräftig volkstümliche und prägnante Art, sich auszudrücken. ›Sicher ist er ein sehr anständiger, einfacher Junge‹, beschloß Tilly. ›Ich glaube, daß ich ihn mögen würde.‹

      Ernst und heroisch gestimmt, wie sie war, gab sie luxuriöse Gewohnheiten auf; zum Beispiel die, in Nachtlokale zu gehen, Whisky zu trinken und fünfzig Zigaretten am Tag zu rauchen. Sie verzichtete auch darauf, weiter die Kunstgewerbeschule zu besuchen. Ihrer Mutter teilte sie mit, daß sie Unterricht im Maschineschreiben und Stenographieren nehmen wolle, um möglichst bald selbst etwas zu verdienen. Frau von Kammer konnte nichts dagegen einwenden – obwohl die Vorstellung, eine ihrer Töchter als Sekretärin arbeiten zu sehen, ihr höchst peinlich war. Aber die Geldverhältnisse der Witwe verschlechterten sich rapide. Die Bilder und Kunstgegenstände, die ihr noch geblieben waren, hatte sie zwar samt ihrer Wohnungseinrichtung und der kleinen Bibliothek mit in die Schweiz nehmen können. Die besten Stücke aber waren längst verkauft, und von dem Barvermögen hatte sie erhebliche Teile für die »Reichsfluchtsteuer« opfern müssen.

      In dem kostspieligen Hotel an der Seepromenade war Frau von Kammer mit ihrer Tochter nur einige Wochen geblieben. Die Dreizimmerwohnung, die sie nach langem Suchen gefunden hatte, war immer noch teuer genug. Sie lag in der Mythenstraße, die einen gediegen soignierten Eindruck machte. »Die Lage könnte nicht besser sein«, erklärte Marie-Luise ihren Bekannten, die kleinbürgerliche Enge der dunklen Parterrestuben mit der Vortrefflichkeit ihrer topographischen Situation gleichsam entschuldigend. »Man hat nur ein paar Schritte bis zum See, bis zu den guten Geschäften an der Bahnhofstraße, zum Paradeplatz, zum Kursaal, und – darauf lege ich ganz besonderen Wert! – man ist nah bei der Tonhalle. Die Konzerte hier sollen ja ersten Ranges sein …« Wirklich hatte sich die geborene von Seydewitz, obwohl sie gar nicht musikalisch war, ein Abonnement für die Symphoniekonzerte geleistet; dies glaubte sie ihrer gesellschaftlichen Stellung schuldig zu sein. »Wenn man aufhört zu repräsentieren«, versuchte sie Tilly klarzumachen, »ist man verloren. Die Leute sehen einen überhaupt nicht mehr an.«

      Der Geheimrat hatte in Zürich viele gute Freunde gehabt – prominente Kollegen oder reiche Patienten; Marie-Luise durfte meinen, daß sie mit mehreren Damen aus Schweizer Patrizierkreisen in den herzlichsten Beziehungen stand. Nun meldete sie sich telefonisch bei ihnen. Man war erfreut, ihre Stimme zu hören; da sie als Adresse zunächst das luxuriöse Seehotel nennen konnte, nahm man an, sie befinde sich auf der Durchreise. Man lud sie zum Tee oder zum Abendessen ein. Sie nahm Tilly mit. »Du wirst sehen, wir werden bald einen reizenden Kreis hier haben«, versicherte sie siegesgewiß der Tochter auf der Taxifahrt zum Villenvorort, wo die lieben Bekannten wohnten.

      Indessen erfror das Lächeln auf den Mienen der wohlhabenden Gastgeber, als Frau von Kammer gestand, daß sie diesmal nicht auf einer Vergnügungs- oder Erholungsreise sei, sondern sich hier niederzulassen gedenke. Es war, als hätte man die eben noch respektable Dame bei suspekten, wahrscheinlich kriminellen Machenschaften ertappt. »Ja, wieso denn?! Warum denn nur, meine Liebe?« forschte angstvoll die Hausfrau. Als Marie-Luise aber, artig und gelassen, erklärte, daß man ihr doch wohl kaum zumuten könne, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte heute als ein Aussätziger gelten würde – da fiel es wie ein eisiger Reif auf die gesellige Runde, und die gute Stimmung war weg. Nach einer fürchterlichen Pause bemerkte jemand, mit schonender Behutsamkeit: »Ja, freilich – der gute Geheimrat war ja … Er war ja wohl … hm …« als müßte man nun endlich den peinlichen Tatbestand zugeben, daß Herr von Kammer Zeit seines Lebens an einer stinkenden Krätze gelitten habe. Tilly bekam schon drohende Augen; sie war im Begriff, Dinge zu äußern, die ihre Mama für immer in diesem Zirkel unmöglich gemacht hätten. Einer der anwesenden Herren ahnte es vielleicht; denn er sagte begütigend: »Gewiß, gewiß, es ist wohl nicht alles, wie es sein sollte im neuen Deutschland. Manche Tendenzen – an sich vernünftig und lobenswert – werden ins Maßlose übertrieben. Das sind unvermeidliche Kinderkrankheiten …«

      Frau von Kammer erklärte, ruhig, aber dezidiert: »Von Politik verstehe ich nichts; meine Kinder machen mir zum Vorwurf, daß ich nie Zeitungen lese. Aber soviel weiß ich doch: diese Nazis sind gemeine Plebejer. Man braucht sich nur ihre Gesichter anzuschauen! Sehen gutrassige Leute so aus?! Und benehmen Menschen, die eine Kinderstube