Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
Скачать книгу
geborene von Seydewitz war keineswegs gewillt, mit irgend jemandem eine Philosophie und politische Konzeption zu diskutieren, der zufolge ihr verstorbener Gatte zu einem Bürger zweiter Klasse, einem Paria degradiert ward. Sie brach rigoros den Verkehr mit allen jenen unter ihren Bekannten ab, die der Rassedogmatik des Nationalsozialismus anhingen. Ihren Freundinnen – von denen die meisten zum mittleren preußischen Offiziersadel gehörten – erklärte sie: »Diese Nazis sind noch schlimmer als sogar die Kommunisten. Bei denen weiß man doch wenigstens, was sie sind: unsere Feinde. Die Nazis aber spielen sich als die Bewahrer unserer heiligsten Güter auf und sind in Wahrheit doch nur respektlose Plebejer.« Die Offiziersgattinnen schwiegen pikiert, wenn die geborene von Seydewitz scharf betonte: »Wer behauptet, ein Jude könne kein guter deutscher Patriot sein, der ist ahnungslos, oder er lügt. Mein seliger Vater – sicherlich ein preußischer Soldat von guter alter Art – zählte einige Juden zu seinen intimsten Freunden. Meine Mädels sind in einem tadellosen Geist erzogen worden. Soll ich es mir nun bieten lassen, daß man sie plötzlich wie Pestkranke behandelt?« Marie-Luise, sonst so fein und still, sprach mit einer vor Indigniertheit beinah klirrenden Stimme.

      Was den verstorbenen General von Seydewitz betraf, so war es bekannt, daß er seiner Familie abends aus den Werken deutscher und sogar ausländischer Poeten vorgelesen hatte – was befremdlich genug wirkte – und daß er, seiner eigenen Kaste gegenüber, von einer sonderbaren Reserviertheit gewesen war. Und was gar die beiden jungen Fräulein von Kammer anging: da hatten Marie-Luisens gute Freundinnen recht gemischte – oder eigentlich schon: ganz eindeutige – Gefühle. Untereinander redeten sie, halb mitleidig, halb entrüstet, über Marion und Tilly. »Die arme Marie-Luise ist blind«, wurde getuschelt. »Sieht sie denn wirklich nicht, wie anstößig sich die jungen Dinger betragen?! Beide schminken sich ja, daß man meinen könnte, sie seien – ich will lieber gar nicht sagen, was!« Die Damen schüttelten die Köpfe und schnitten Grimassen, als hätte man ihnen etwas Widriges in den Tee geschüttet. »Kein Wunder«, sagten sie noch. »Die Rasse des Vaters schlägt durch.«

      Frau von Kammer war keineswegs blind für die etwas riskanten Allüren ihrer beiden erwachsenen Kinder. Es schmerzte sie bitter, daß die Mädchen sich nicht ihren Umgang in den konservativen, vornehmen Kreisen suchten, die das Milieu der Mutter waren, und um deren Gunst der Geheimrat sich ein Leben lang mit Zähigkeit und Erfolg bemüht hatte. Woher kam ihnen nur der unglückselige Hang zur Bohème? Dieser extravagante kleine Pariser – Marcel Poiret – mit dem Marion fast ihre ganze freie Zeit verbrachte, war durchaus nicht nach dem Geschmack der Mama. Auch Martin Korella, den Marion schon als kleines Mädchen gekannt hatte, kam Frau von Kammer etwas unheimlich vor. Seine schleppende Art zu sprechen, sein verhangener, zu süßer und zu trauriger Blick, die selbstgefällige Ironie seiner Äußerungen. »Es paßt sich nicht für einen jungen Mann«, sagte Marions Mutter, »und überhaupt, er hat so gar nichts Frisches.«

      Der Student, den Tilly ihren Bräutigam nannte, Konni Bruck, machte einen sympathischeren Eindruck; aber Frau von Kammer wußte, daß er sich mit Politik beschäftigte, und zwar auf ungehörige Weise. Er war mindestens Sozialdemokrat, vielleicht sogar Kommunist: die Geheimratswitwe wollte es gar nicht so genau wissen. Jedenfalls stand fest, daß er Tilly in politische Versammlungen schleppte – an Orte also, wohin junge Mädchen keineswegs gehören – ebensowenig wie in Nachtlokale, die Konni Bruck auch mit Tilly zu frequentieren pflegte.

      All dies beschäftigte und betrübte Marie-Luise. Aber der Familienhochmut und ihre Liebe zu den beiden Mädchen verboten es ihr, jemals einem ihrer Bekannten gegenüber solche Sorgen anzudeuten. Schließlich war die Mutter auch stolz darauf, daß Marion und Tilly viele Freunde und Bewunderer hatten. In einer gewissen Gesellschaft spielten die zwei entschieden eine Rolle – wenngleich es nicht genau die Gesellschaft war, die Frau von Kammer-Seydewitz sich für ihre Töchter gewünscht hätte.

      Als die Nazis zur Macht kamen, war man in Marie-Luisens Kreisen zunächst begeistert. Nur ganz wenige Hellsichtige ahnten schon, daß nun Personen und Tendenzen herrschend wurden, die einem aristokratischen Konservativismus durchaus nicht in allen Stücken freundlich gesinnt waren. Ahnungslos wie die berauschte Masse, die in den Straßen lärmte, jubilierten die Offiziersdamen aus Potsdam oder Ostpreußen darüber, daß nun Schluß sein sollte mit dem Schandvertrag von Versailles und mit dem verhängnisvollen Einfluß der Israeliten.

      Marie-Luise stand mit ihrer Bitterkeit und ihrem Haß ganz allein. Sie dachte an ihren Gatten und gab niemandem mehr die Hand, der ein Hakenkreuz im Knopfloch trug oder Heil Hitler rief. Wenn sie einem Trupp von Braunhemden auf der Straße begegnete, hielt sie sich ostentativ die Nase zu, anstatt den Arm zu recken. »Nazis stinken«, behauptete sie und wäre einmal fast verprügelt worden, weil eine Kleinbürgersfrau, die neben ihr stand, es gehört hatte.

      Marion war abgereist, nachdem die Geheime Staatspolizei mehrere ihrer nächsten Freunde verhaftet hatte. Auch Tilly, die sich mit dem jungen Bruck in linken Versammlungen gezeigt hatte, wurde gewarnt: es lägen bei der Gestapo Denunziationen gegen sie vor – anonyme Briefe, wahrscheinlich von den guten Freundinnen ihrer Mutter; sie sei in akuter Gefahr. Ihren Konni traf sie nur noch in aller Heimlichkeit; ein paar Nächte lang schlief sie nicht mehr zu Haus. Es war ein unhaltbarer Zustand. Marie-Luise empfand es als unter ihrer Würde, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte – wenn er noch lebte – Beleidigungen ausgesetzt gewesen wäre, und wo anständige Menschen ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnten.

      Tilly hatte erwartet, sie werde ihre Mama mit großer Eloquenz zur Abreise überreden müssen. In Wahrheit stand es bei Marie-Luise schon fest, daß im Dritten Reiche ihres Bleibens nicht war, ehe Tilly auch nur angefangen hatte zu sprechen. Ohne irgendwelches Aufheben zu machen, still und umsichtig, hatte die Mutter mit den notwendigen Vorbereitungen begonnen.

      Tilly ihrerseits wäre für die Emigration nicht zu haben gewesen, wenn nicht der junge Bruck – dem die Vorstellung unerträglich war, daß die Freundin seinetwegen in Gefahr kommen könnte – sie dazu bestimmt hätte: Er mußte ihr gegenüber wirklich alle jene Überredungskünste anwenden, die bei der geborenen von Seydewitz überflüssig waren. Konni versprach, in ein paar Wochen oder Monaten ins Ausland nachzukommen. Es war das erste Mal, daß er Tilly belog. Seine entschiedene Absicht war es, in Berlin zu bleiben und der illegalen Opposition, die sich gleich nach der »Machtergreifung« zu formieren begann, alle seine Kräfte zur Verfügung zu stellen. Er war zwanzig Jahre alt, studierte Physik und glaubte mit einer Zuversicht, die jedem Widerspruch mit stolzem Achselzucken begegnete, daß die marxistischen Dogmen und Prophezeiungen in einem ebenso objektiven, indiskutablen Sinne »wahr« seien wie gewisse Naturgesetze oder mathematische Regeln. Man verhaftete ihn, als er versuchte, vor Beginn des Kollegs antifaschistische Flugblätter im Universitätsgebäude zu verteilen.

      Das geschah kaum einen Monat nachdem Tilly mit ihrer Mutter in Zürich eingetroffen war. Die beiden saßen am Frühstückstisch – man hatte vom Hotelzimmer aus die schönste Aussicht über den See, auf dessen dunstiger Fläche die Segelschiffe zu schweben schienen; der Liftboy brachte den Brief, er war von einem Kameraden des jungen Bruck, trug den Poststempel »Prag« und war mit den Initialen »H.S.« gezeichnet. Tilly durchflog die Zeilen. Sie ließ das Papier zu Boden fallen, dabei schrie sie leise und faßte sich mit beiden Händen an die Brust, als hätte jemand ihr einen furchtbar schmerzhaften Schlag versetzt. Sie bekam keinen Atem mehr. Die Mutter dachte, mein Gott, es sind diese asthmatischen Zustände, die hat sie doch seit Jahren nicht gehabt. Tilly keuchte und bearbeitete mit kleinen hilflosen Faustschlägen ihre um Atem ringende Brust. In einem Gesicht, das weiß geworden war wie das Tischtuch, öffneten sich die weichen und nassen Lippen zur Klage. Die Augen waren noch trocken, aber sie schienen nichts mehr zu sehen: ehe noch die Tränen sie blind machten, nahm ihnen der betäubende Schmerz schon den Blick. Bei sehr großen Affekten, in der Wollust oder in der Verzweiflung, bleibt den Menschen nichts übrig, als das festgelegte, klassisch stilisierte Bild zu stellen. Gerade die ungeheuersten Gemütsbewegungen drücken sich in der höchst konventionellen Pose aus. Das Individuelle tritt zurück; was bleibt ist der menschliche Urtyp. Tilly von Kammer – am Frühstückstisch in diesem Züricher Hotelzimmer – stellte, sich die Brust schlagend und das Haupt mit den tragisch blicklosen Augen langsam hin und her wiegend, das klassische Bild: junge Frau, die Trauerbotschaft empfangend.

      Auch die Mutter verhielt sich genauso, wie die Zeugin