Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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indigniert. »Aber erlauben Sie, gnädige Frau«, ließ er seinen einschüchternden Baß vernehmen. »Aus der Art, wie Sie den Ausdruck ›Plebejer‹ verwenden, könnte man fast auf eine sehr rückständige Gesinnung bei Ihnen schließen. Die Männer des Volkes, die jetzt in Deutschland draußen, Gott sei’s gedankt, an der Macht sind, erfüllen eine eminente historische Aufgabe. Die Volksgemeinschaft ist hergestellt, die Hetze zum Klassenkampf gibt es nicht mehr. Wenn Sie die akute bolschewistische Gefahr bedenken, in der das Reich sich tatsächlich befand …«

      Die Hausfrau rief flehend: »Aber lassen wir doch die Politik! Frau von Kammer hat ja selbst erklärt, daß sie sich mit dergleichen nicht befaßt! Und es gibt doch so viele andere Gesprächsthemen, die amüsanter sind.« Sie blickte hilfesuchend im Kreise umher.

      Eine rechte Gemütlichkeit wollte sich nicht mehr herstellen. Frau von Kammer und ihre Tochter brachen früh auf. Im Wagen blieben sie beide eine Weile stumm. Marie-Luise saß in sehr aufrechter Haltung, den Blick starr geradeaus gerichtet. Tilly – die noch vor einer Viertelstunde sehr ärgerlich auf ihre Mutter gewesen war – spürte jetzt nur noch Mitleid. Sie überwand ihre Scheu und Befangenheit, die sie sonst in Gegenwart der Mama selten los wurde; vorsichtig streichelte sie die magere, harte Hand ihrer Mutter.

      Frau von Kammer war leicht zusammengefahren; beinah hätte sie den Arm weggezogen. Sie hielt aber stille. Die kleine Liebkosung tat wohl. Mit einer ganz weichen, etwas heuchlerischen Stimme sagte sie: »Es war wohl nicht sehr unterhaltend bei Krügis – wie? Mir scheint, sie haben sich recht verändert. Früher ist es viel zwangloser und netter bei ihnen gewesen. Vielleicht war Frau Krügis durch irgend etwas präokkupiert …«

      »Sei nur still, Mama!« Tilly schmiegte sich enger an die Mutter. »Wir müssen ja nicht mehr zu den Leuten. Wir wollen überhaupt nicht mehr solche Besuche machen – versprichst du mir das?«

      Nun fand Frau von Kammer doch, daß ihre Tochter zu weit ging. Das war wieder jene Neigung zur Hemmungslosigkeit, die Marie-Luise so fremd und sogar beängstigend schien. »Es ist sehr wichtig für uns, daß wir von der Züricher Gesellschaft empfangen werden«, sagte sie, nicht ohne Strenge, und nahm wieder Haltung an. »Morgen sind wir zum Tee bei Wollenwebers.«

      Tilly seufzte und ließ die Hand ihrer Mutter los.

      Frau von Kammer war in allen gesellschaftlichen Dingen von Sensibilität und prompt reagierendem Taktgefühl. Jetzt aber dauerte es ziemlich lange, bis sie es verstand und sich klarmachte, daß sie in der Gesellschaft, der sie sich, ihrer Herkunft und Erziehung wie ihrer Neigung nach, zugehörig fühlte, unerwünscht war. Nur sehr allmählich begriff sie, daß es bei den reichen, alteingesessenen, hochachtbaren Familien einfach als anstößig galt, mit der Regierung des eigenen Landes überworfen zu sein. Wenn es sich um ein sozialistisches Regime gehandelt hätte, mit dem man nicht auskommen konnte, wäre dies entschuldbar und selbst ehrenvoll gewesen.

      Marie-Luise sah sich fallengelassen von denen, die sie als »Menschen meinesgleichen« zu bezeichnen pflegte, und sie litt darunter. Keineswegs hatte sie vorgehabt, sich von ihrer eigenen Gesellschaftsschicht zu lösen, als sie Deutschland verließ. Nicht ohne Schrecken mußte sie nun konstatieren, daß genau dies es war, was sie getan hatte. Sie fühlte sich sehr allein – so allein wie noch niemals zuvor im Leben. Mit wem sollte sie reden, wenn die »Menschen ihresgleichen« auf die Unterhaltung mit ihr keinen Wert mehr legten? Sie verstand nur ihren Jargon, keinen anderen. Sowohl die Leute »aus dem Volke« als auch die Intellektuellen drückten sich für die Ohren Marie-Luisens in fremden Zungen aus. Manchmal versuchten ein Briefträger, ein Handwerker oder die Gemüsefrau gutmütig, sie ins Gespräch zu ziehen. Sie hatten wohl davon gehört, daß diese deutsche Dame sich mit den neuen Machthabern in ihrem Lande nicht recht vertrug. Die meisten waren geneigt, Frau von Kammer, weil sie Emigrantin war, für eine Jüdin zu halten, trotz ihrem echt von Seydewitzschen Aussehen. Der Briefträger und die Gemüsefrau drückten ihre Empörung aus über all das, was man den Israeliten jetzt antat – dort »draußen«, im Reich. Ein Handwerker, der die Wasserleitung in der Wohnung reparierte, ging so weit, zu erklären: »Aufhängen sollte man den Hitler!« Alle waren sich darüber einig, daß es eine Schmach und eine Schande sei, und daß »bei uns in der Schweiz« dergleichen niemals geduldet würde. »Die sollten es nur probieren!« rief drohend die Gemüsefrau mit ihrer behindert-gutturalen Stimme. Es waren sehr brave Leute, von einem ruhigen, anständigen Selbstbewußtsein. Sie gefielen Marie-Luise. Trotzdem wußte sie nicht, in welchem Tone sie ihnen antworten sollte. Sie lächelte starr und befangen. »Ja, ja, es ist wohl nicht alles ganz so, wie es sein sollte«, bemerkte sie, konventionell und floskelhaft.

      Es war bitter, allein zu sein. Nun empfand Frau von Kammer es mehr denn je, daß zwischen ihr und den beiden Töchtern ein wahrhaft herzliches, spontan vertrauensvolles Verhältnis sich niemals hatte herstellen wollen. Sie schrieb lange Briefe nach Paris, an Marion. Aber diejenigen, in denen von ihren Gefühlen und Nöten die Rede war, schickte sie niemals ab, sondern nur die anderen, welche von der Wohnungseinrichtung oder von einem Abend im Stadttheater erzählten. Marions Antworten – mit einer großen, zugleich energisch beschwingten und fahrigen Schrift bedeckte Zettel – waren selten mehr als ein paar launig-barocke Redensarten, aphoristische Wutausbrüche gegen die Nazis oder wirre Andeutungen, das Pariser Leben betreffend. – Susanne sendete aus dem Internat pflichtgemäß ihre wöchentlichen Berichte; sie waren stets trocken gehalten, ihr Inhalt schien befriedigend, es fehlte ihnen jeder Hauch von Phantasie, jeder Atem von Zärtlichkeit.

      Und Tilly? Sie lebte in der Nähe der Mutter und schien weiter von ihr entfernt zu sein als die beiden abwesenden Töchter. Marie-Luise wußte kaum, mit wem ihr Kind seine Tage verbrachte. Von den Schreibmaschine- und Stenographiestunden konnte ihre Zeit keinesfalls ganz ausgefüllt sein. Tilly schien neue Bekannte, vielleicht Freunde zu haben. Frau von Kammer hörte sie am Telefon plaudern und Verabredungen treffen. Es waren wohl Emigranten – Marie-Luise wußte, daß es ihrer ziemlich viele in Zürich gab. Tilly traf sich mit ihnen in den Kaffeehäusern. Niemals brachte sie einen dieser Menschen in die Mythenstraße. Frau von Kammer konnte dies als Rücksicht auffassen. Immerhin hätte das Kind ja einmal fragen können, ob die Mama einen ihrer neuen Bekannten bei sich zu empfangen wünsche. Wahrscheinlich würde Marie-Luise abgelehnt haben. Sie empfand kein Bedürfnis, Leute zu sehen, mit denen sie wohl kaum mehr gemeinsam hatte außer eben ein Gefühl: die Antipathie gegen die Nazis. Fraglich blieb nur – dachte Frau von Kammer – ob ihr ein Deutschland, das so, wie diese Emigranten sich’s wünschten, regiert war, erträglicher gewesen wäre als das Dritte Reich. Man durfte vermuten, daß die meisten jener Exilierten »Radikale« waren – ein Begriff, mit dem die Geheimratswitwe vage, aber keineswegs erfreuliche Vorstellungen verband. Da traf man sich also abends, in einer Wohnung, wo es gewiß recht unordentlich aussah, oder im Café, und diskutierte bösartig über die Revolution. Ein laut redender, reichlich Alkohol konsumierender Kreis – malte Marie-Luise sich aus – und eine von der Gesellschaft war also ihre Tochter Tilly. Manchmal mochte es ja recht angeregt zugehen; es wurde gelacht, Frau von Kammer hatte schon so lange nicht mehr laut und herzlich lachen hören. Aber nein: ihr Milieu war dies entschieden nicht … Da war, immer noch, die Einsamkeit besser.

      Die Einsamkeit war nicht gut. Auf die Dauer wurde es fast unerträglich, durch die Straßen dieser schönen, sommerlichen Stadt zu gehen und zu niemandem sagen zu können: »Schau, wie die Flügel der Möwen heute wieder in der Sonne leuchten!« Oder: »Mir kommt es vor, als wäre der See heute noch blauer, als er gestern war.«

      Das Leben in Zürich war heiter. Die schöne und reiche Stadt schien ihre Bürger – oder die Fremden, die in den gepflegten Hotels an der Bahnhofstraße, an den Seeufern logierten – vergessen lassen zu wollen, was im großen, tragischen Nachbarlande täglich, stündlich an Jammervollem und Bösem, an Schauerlichem und Gemeinem geschah. Zürich strahlte. An den freundlich bebauten, höchst zivilisierten Ufern seines Sees hatten Wohlstand und Biederkeit sich niedergelassen. In diesen besonnten Juniwochen meinte man, hier nur glückliche Menschen zu sehen; die Unglücklichen zeigten sich nicht. Die Badeanstalten am See waren überfüllt wie die eleganten Konditoreien, die Hotelterrassen, die Cafés, die populären Biergärten. Wohin man schaute – braungebrannte, lachende Gesichter. Junge Leute gingen in Nagelstiefeln und Leinenhosen umher, schwer beladen mit ihrem Rucksack und doch leichten Schrittes; sie kamen von Bergtouren, oder sie brachen gerade zu Exkursionen