Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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Daß seine Mutter aus Italien stammte, war oft erwähnt worden. Plötzlich gestand er: sie war in München geboren, Italiener war nur ihr Vater gewesen. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber er legte Wert darauf, es festzustellen. »Ich bin deutsch, durch und durch – mögen die dummen Nazis es auch bestreiten.« – Die Sirowitsch war schauerlich berührt von solchen Reden. Kamen sie aus dem Munde ihres ironischen Nathan-Morelli?

      Als er noch gesund und boshaft war, hatte er wenig Freunde. Jetzt, da Abschiedsmilde ihm Blick und Lächeln verklärte, zog er die Menschen an. Er war fähig, ihnen zuzuhören, weil die eigenen Angelegenheiten ihm nun gleichgültig waren. – Manchem wurde es zur angenehmen Gewohnheit, sich am Lager dieses sanften, klugen Kranken auszusprechen.

      David Deutsch freilich schien entsetzt zu sein über die eigene Kühnheit. »Ich überfalle Sie«, murmelte er, noch in der offenen Türe – das blauschwarze Haar gesträubt, wie aus Schrecken über sein verwegenes Eindringen. »Sie liegen wehrlos im Bett, ich stehle Ihnen die Zeit – nur ein paar Minuten; aber immerhin …« Er machte schiefe Bücklinge; wand gequält den Oberkörper, und über sein wächsern bleiches Gesicht liefen Zuckungen. – »Es ist wirklich gar zu keck von mir!« wiederholte er, eigensinnig zerknirscht – obwohl Nathan-Morelli ihm schon wiederholt versichert hatte, wie sehr die Visite ihn freue.

      »Nur ein Abschiedsbesuch …« David brachte es gleichsam als Entschuldigung vor, als wollte er andeuten: Selbst meine Unverschämtheit hat ihre Grenzen. Wenn es nicht adieu zu sagen gälte, hätte ich mich denn doch nicht hergewagt. Nathan-Morelli erkundigte sich, wohin Herr Deutsch denn zu reisen gedenke. – »Ziemlich weit weg.« David lächelte trüb; sein dunkler, trauervoller Blick wich den müden, aber scharfen Augen des Kranken aus. Er berichtete trocken – als handelte es sich um eine etwas peinliche, auch kaum sehr wichtige Sache: »In Dänemark irgendwo gibt es ein Lager, wo jüdische Intellektuelle zu Landarbeitern oder Handwerkern ausgebildet werden.« – »Was haben Sie dort zu suchen?« forschte Nathan-Morelli. Und David – wobei er ihm plötzlich fest und ruhig in die Augen sah, als hätte er eine dumme Scham überwunden: »Ich will Schreiner werden.«

      Nathan-Morelli schwieg eine kleine Weile. Er blickte ernst, wie sein Gast. Dann sagte er langsam: »Ich habe Ihre Arbeiten in den Soziologischen Heften immer mit großem Interesse verfolgt. Ihre große Studie zur Kritik des Marxismus …«

      »Hören Sie bitte auf!« – David hatte es fast geschrien – soviel Heftigkeit wirkte, gerade bei ihm, überraschend. Nathan-Morelli erschrak nicht; sah ihn nur aufmerksam an. David hatte Tränen in den Augen.

      »Ich kann nicht mehr …« brachte er schließlich hervor. »Es quält mich – es ekelt mich an … Ich kann nicht mehr denken und nicht mehr schreiben …« – Nathan-Morelli warf, schmeichlerisch und grausam zugleich, mit ruhiger Stimme dazwischen: »Mir scheint aber, daß Sie immer noch vorzüglich denken und vorzüglich schreiben können.« Hierauf ging David nicht ein. Mit nassen Augen und verzerrtem Mund klagte er weiter: »Gleich nach Martins Tod hatte ich die erste furchtbare Krise. Monatelang war ich wie gelähmt. Bedenken Sie doch: ich habe ihn sterben sehen – den langsamen Selbstzerstörungsprozeß überwacht … Er hatte so große Gaben! Einen solchen Tod mitanzusehen – bedenken Sie doch, was das bedeutet …« – Alles sprach dafür, daß das eingeschrumpfte Buddha-Gesicht dies recht gründlich bedachte. Nathan-Morelli sagte nichts; geduldig wartete er auf Davids nächsten Ausbruch.

      Der Besucher aber nahm sich zusammen – mit einem Ruck, der ihm nicht nur das Antlitz, sondern auch den Körper verzog. Er schüttelte sich, als führen elektrische Ströme durch seinen Leib. Die zerbrechlichen Finger zausten das starre Haar. Endlich hatte er seine Nervosität so weit bezwungen, daß es ihm möglich war, mit bewegter, aber gedämpfter Stimme fortzufahren.

      »Die Analyse der gesellschaftlichen Kräfte und ihrer Entwicklung interessiert mich nicht mehr.« Er konstatierte dies mit großer Traurigkeit, wie eine Mutter, die gestehen müßte: Ich habe aufgehört, mein Kind zu lieben. – »Wenn eine Gesellschaft in Krämpfen liegt; wenn alle ihre ökonomischen, moralischen, intellektuellen Gesetze plötzlich fragwürdig werden und vor unseren Augen zerbrechen – dann scheint es mir sinnlos – schlimmer als das: frivol – sich mit Theorien über Herkunft und wahrscheinlichen Ausgang der Katastrophe wichtig machen zu wollen.«

      »Die Theorie könnte hilfreich sein«, bemerkte Nathan-Morelli. »Die Untersuchung der Katastrophe, die Klärung ihrer Ursprünge kann zur Heilung führen … Was für ein Unsinn!« rief er, wobei seine Stimme plötzlich herzhaft kräftig klang. »Was für eine Kateridee – das mit der Schreinerei! Tische und Stühle zimmern kann jeder Trottel. Aber ein Hirn wie Ihres ist unersetzlich – gerade jetzt, heute, für uns!«

      David schüttelte das zarte Haupt – melancholisch, aber entschlossen. »Ich habe es mir überlegt; habe mir alles vorgehalten, was dafür und was dagegen spricht – das werden Sie mir doch glauben? – Ich ertrage es einfach nicht mehr – dieses Monologisieren; dieses In-den-luftleeren-Raum-Sprechen … Denn wir sprechen doch ins Leere, niemand hört uns zu, das ist so – beschämend … Die Ereignisse gehen ihren Gang – ihren schrecklichen Gang – unbeeinflußt von uns. Oft fühle ich mich so entfremdet der Wirklichkeit; so ausgestoßen vom echten Leben; isoliert, vereinsamt … Es kommt da so vieles zusammen. Man hat die Heimat verloren; man ist ein Jude, ein Intellektueller – ein ›volksfremdes Element‹ …« Dies sagte er mit einem höhnischen Achselzucken und einem sehr bitteren kleinen Gelächter. »Überall ein ›volksfremdes Element‹ …«

      Dann richtete er sich auf, Miene und Haltung wurden zuversichtlich. »Man muß diese Isolierung durchbrechen können …« Er atmete stärker – beinah schon befreit. »Das einfache Leben wird die Rettung sein. Auf den geistigen Hochmut verzichten, sich einordnen, arbeiten – mit den Fäusten arbeiten – das ist die Rettung! Das ist die Erlösung!«

      Er hob und senkte die ineinander verkrampften Hände; dabei wiegte er leicht den Kopf, auch sein Oberkörper geriet in rhythmisches Schwanken – kummervolle orientalische Pantomime, seltsam kontrastierend zum Elan der Worte, die er gesprochen hatte. – Nathan-Morelli – matt, aber aufmerksam – schaute auf diese klagend hin und her bewegten, höchst zerbrechlichen Finger. – »Werden Sie stark genug sein?« Er fragte es behutsam und schonend. »Ich meine – werden Ihre Hände kräftig genug sein für den Zimmermannsberuf?«

      Über Davids zartes Wachsgesicht lief eine helle, geschwinde Röte, als würde sein Schamgefühl verletzt durch solchen Zweifel. Er reckte sich ein wenig und rief: »Es muß gehen – es muß! – Ich freue mich auf das neue Leben!« Dies behauptete er mit Nachdruck; wiegte aber jammernd Haupt und Oberkörper. »Wollen Sie Bilder von unserem Lager sehen?« Er kramte aufgeregt in den Jackentaschen; Nathan-Morelli mußte lächeln, weil David schon von »unserem Lager« sprach. – »Alles ist dort von den jüdischen Intellektuellen selbst fabriziert. Sie haben die kleinen Häuser selbst gebaut, in denen sie wohnen, und diese Tische, diese Schränke und Krüge: alles ihr Werk! Ist das nicht prachtvoll? Es muß ein wundervolles, tröstliches Gefühl sein, auf einem Stuhl zu sitzen, den man gezimmert hat, mit den eigenen Händen … Und wenn sie dann ausgebildet sind – wenn sie etwas Praktisches, Nützliches wirklich können – dann finden sie eine Stellung, irgendwo in der Welt – in Australien oder in Argentinien oder in Alaska – ganz egal, wo. Die Lagerleitung besorgt ihnen das. Der Mann, der das alles ins Leben gerufen hat, heißt Nathan: ein famoser Mensch, ich habe ihn kennengelernt; ein großer Organisator, ein aktiver Philanthrop. Er hat viele Existenzen gerettet; manches Leben, das sich schon selber aufgeben wollte, hat durch ihn einen neuen Sinn bekommen. Diese Leute mußten sich für überflüssig halten – niemand konnte sie brauchen, die Lumpenproletarier mit dem Doktortitel. Jetzt begreifen sie, daß niemand überflüssig ist, wenn er sich nur einzuordnen versteht. – Wir müssen den falschen Ehrgeiz ablegen wie ein schwarzes, feierliches Kleid, das bei der redlichen Arbeit nur stört. – Europa hinter sich lassen, seine schal gewordene Problematik überwinden; heimkehren zu den primitiven Formen des Lebens, die seine haltbarsten sind; Weib und Kind ernähren, für die Familie schaffen, wie der Bauer, wie der Handwerksmann im Dorf …«

      Der Begeisterte schien zu vergessen, daß er weder Weib noch Kind sein eigen nannte; nicht einmal eine Braut hatte der arme David. Sein stiller Zuhörer dachte daran; hütete