Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
Скачать книгу
du denn? Bist du denn nicht in New York?« – Die Tochter erklärte: »Nein, ich bin auf meiner Tournee im Mittelwesten von Amerika, in einer kleinen Stadt, du hast wohl nie ihren Namen gehört, es ist eine besonders nette kleine Stadt … Ich habe mich verlobt!« rief Marion über zwei Kontinente und das Atlantische Meer – über viele Städte, Ebenen, Flüsse und Gebirge hin, über ein fast unendliches Wasser hin berichtete die Tochter der Mutter. »Ich habe mich am Weihnachtstag verlobt, Mama! Kannst du mich hören?« – »Natürlich kann ich dich hören!« rief Frau von Kammer. »Deine Stimme klingt, als ob sie hier im Zimmer spräche, es ist wunderbar! – Mit wem hast du dich denn verlobt, liebes Herz?« – »Es ist ein Deutscher«, teilte die Tochter mit. »Ein Professor, er heißt Abel, er ist uralt und hat einen weißen Vollbart …« Sie mußte lachen; Benjamin machte wütende Zeichen. »Er wird dir nachher guten Abend sagen, er ist taub und wird kein Wort verstehen, wenn du zu ihm sprichst, er ist sehr komisch – es ist sehr komisch von mir, daß ich ihn gerne mag …« Der Bräutigam rang die Hände. Marion fragte: »Wie geht es denn bei euch, Mama? Hast du die Pension eröffnet? Habt ihr einen netten Silvesterabend gehabt? Sind die Gäste schon weg? Schläfst du schon? Habe ich dich gestört?«

      Marie-Luise wollte alles auf einmal erzählen; überstürzte sich, brachte fast gar nichts heraus. Immerhin ließ sich verstehen: Der Betrieb von Pension »Rast und Ruh« hatte vielversprechend gestartet. »Wir haben acht Gäste, lauter reizende Menschen, und zum Abendessen waren Ottingers da und Peter Hürlimann, Ottingers haben Champagner gestiftet, es war ein sehr hübscher Abend, wir haben die neue Pension hochleben lassen – denke dir: Frau Ottinger war ein bißchen beschwipst!« Marion erfuhr – über den Ozean, über so viele Ebenen und Städte – die Details des Züricher Silvestermenüs. »Tilla hat sich um alles gekümmert«, betonte Marie-Luise bescheiden. »Und wie bezaubernd sie aussieht – du kannst es dir gar nicht vorstellen! Sie trug ein neues Schwarzseidenes – ganz einfach, aber so schick! Jetzt ist sie ja schon im Schlafrock …« Es klang, als ob Frau von Kammer sich bei Marion wegen des nachlässigen Kostüms ihrer Freundin entschuldigen wollte. – Herr Ottinger hatte mit seiner »Lebensbeichte eines Eidgenossen« viel Erfolg – auch dies ward Marion noch zugerufen, über Wellen und Berge. »Und das Buch ist unserer Tilly gewidmet! Ist das nicht rührend? Sie wird nicht vergessen von ihren Freunden, auch Peter Hürlimann hat etwas zu ihrem Andenken komponiert, eine Art von Requiem, der gute Junge, es klingt interessant, ich kann es nicht ganz verstehen. – Tilly wird nicht vergessen!« rief die Mutter vom Zürichberg. Und Marion, im Mittelwesten der USA, wiederholte: »Sie wird nicht vergessen.«

      Später mußte Benjamin die Schwiegermama telefonisch begrüßen – es wurde ein langes Gespräch, ein ziemlich kostspieliges Weihnachtsgeschenk. Marie-Luise gratulierte dem fremden Herrn; dabei fiel ihr ein, daß sie der Tochter gar nicht ordentlich Glück gewünscht hatte. »Mein Gott, ich bin so vergeßlich! – Machen Sie mein Kind glücklich!« verlangte die Mutter aus großer räumlicher Distanz. »Haben Sie wirklich einen langen weißen Bart?« – »Keine Spur!« Benjamin legte größten Wert darauf, dies richtigzustellen. »Ich bin glattrasiert!«

      Auch Lucy wurde zum Apparat geschoben; sie kicherte und wischte sich die Hände an der Schürze, als sollte sie der Königin von England die Hand reichen. Sie knickste sogar; denn sie dachte: ›Wahrscheinlich kann man mich auch sehen, da man mich hören kann … Jedenfalls ist es ratsam, sich manierlich aufzuführen, wenn man schon mal mit Europa spricht.‹ Übrigens war sie davon überzeugt, daß Zürich die Hauptstadt des Deutschen Reiches sei, daß dort ein Kaiser mit einem kolossalen Schnurrbart regiere, und daß alle Leute beständig Hofknickse exekutierten oder sich tief verneigten. »Happy New Year, Ma’am!« rief die dicke Lucy, wobei sie sich vor Lachen ausschütten wollte.

      »Ein glückliches neues Jahr!« wünschte Frau Tibori aus Pension »Rast und Ruh«: ihre Stimme hatte noch den süßen und tiefen Klang; ein Unter- und Nebenton von Klage war ihm beigemischt. Die Tatsache, daß Marion heiraten wollte, schien sie zu rühren, beinah zu erschüttern. »Alles, alles Gute!« sagte sie immer wieder, enthusiastisch und dabei irgendwie warnend. Ihr lag daran, der Tochter ihrer Freundin zu bedeuten: Liebes Kind, das Leben ist schwierig, und die Männer tun alles dafür, es uns erst recht bitter und kompliziert zu gestalten! Machen Sie sich keine Illusionen über Ihren Bräutigam, liebes Kind – er mag ein charmanter Mensch sein, aber wohl kaum viel zuverlässiger als der Rest. Mein Gott – wenn ich an meinen Kommerzienrat denke! Oder an den Jungen von mexikanischer Abkunft! Was für ein kleiner Schuft! – »Alles alles Gute!« wiederholte sie mit düsterem Überschwang.

      »Alles, alles Gute!« – eine halbe Stunde später hörte Marion den herzlich gemeinten Wunsch aus dem Munde der amerikanischen Freunde. Mrs. Piggins weinte fast, als Professor Abel feierlich mitgeteilt hatte: Marion und ich werden heiraten. – »Ich habe es geahnt!« schluchzte die gute Dame, obwohl ihr alles überraschend kam. Mr. Piggins, ein nachdenklicher Realist, fand das Arrangement vernünftig und lobenswert. Jonny Clark, der es wirklich geahnt hatte, zeigte musterhafte Selbstbeherrschung. Immerhin bedeutete es ihm einen Schock. Er hatte für diese seltsame Europäerin mit den schrägen Augen ein entschiedenes Faible gehabt. ›Isn’t she utterly attractive?‹ – dachte Jonny, der Braungebrannte. Und er beschloß: ›Nun küsse ich ihr nochmal die Hand! Das kleine Vergnügen darf ich mir wohl gönnen als Lohn für soviel selbstlose Zurückhaltung!‹ – Dem Kollegen Abel klopfte er die Schulter: »Congratulations, old chap!« Sie tauschten männlich-befreundete Blicke. Sie mochten sich. Sie tranken sich herzlich zu.

      Der alte Professor Schneider war schier außer sich vor Vergnügen über das charmante Ereignis. Er bekam feuchte Augen, sein Mienenspiel war sowohl schalkhaft als auch ergriffen. »Und sie passen so gut zueinander!« sagte er immer wieder. Dann spielte er den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn auf dem Klavier. »Ihr werdet nach Deutschland zurückkehren!« prophezeite er dem jungen Paar und ward wehmütig in der Erinnerung an längst verflossene Heidelberger Studententage. »Ihr werdet gute Amerikaner sein – und ich wünschte mir, ihr bliebet immer hier. Aber Deutschland kann auf die Dauer Menschen von eurer Art nicht entbehren. Ihr werdet zurückkehren!« verhieß er und bewegte die alten, etwas gichtischen Finger munter über die Tastatur.

      Übrigens hatte er seinerseits noch eine kleine Sensation auf Lager. Wer hatte ihm denn geschrieben? Von wem war der Brief, mit dem er jetzt neckisch winkte? – Abel erriet es nicht; der Brief kam von Professor Besenkolb aus Bonn.

      »Was will denn das alte Untier?« – Benjamin schien belustigt, aber auch ärgerlich.

      Besenkolb erkundigte sich bei Schneider, ob es in den Staaten keine Chancen für einen berühmten alten Germanisten gebe. In fast demütigen Wendungen bat er um Protektion. Er hatte das Naziregime gründlich satt, er war enttäuscht und verbittert. »Die jungen Leute lernen nichts mehr«, klagte der Gelehrte aus Bonn. »Sie machen Geländeübungen. Ich habe mir das anders vorgestellt. Mich hat der ›Völkische Beobachter‹ angegriffen, weil ich meinerseits Goethe nicht scharf genug getadelt habe wegen seiner lahmen Haltung während der Freiheitskriege. Ein alter Patriot wie ich muß sich sagen lassen, es fehle ihm an Interesse für die nationale Ehre. – Ich will weg.«

      Besenkolb hatte sein zorniges und bekümmertes Schreiben einem Schweizer Bekannten mitgegeben, der es von Basel aus beförderte. – »Das ist doch amüsant!« meinte Schneider. Er kannte die Geschichte des Zwistes zwischen Besenkolb und Abel und hatte den Zeitungsartikel gelesen, in dem der »alte Patriot« den jüngeren Kollegen als »Schänder deutschen Kulturgutes« denunzierte. – »Das ist doch drollig!«

      Auch Abel fand, daß es drollig war, und schämte sich nicht, seinen Triumph zu zeigen. »Mit miserablem Benehmen macht man nicht immer die besten Geschäfte«, stellte er fest. »Auch Schurken können mal reinfallen.« – »Und es geschieht ihnen recht!« rief Professor Schneider, befriedigt über das prompte Funktionieren der moralischen Weltordnung.

      Der Abend in Abels Junggesellenwohnung ward so außerordentlich gemütlich, daß die amerikanischen Freunde noch Wochen und Monate später davon zu singen und zu sagen wußten. Man konnte von einem Gemütlichkeitsrekord sprechen: darüber war nur eine Meinung bei allen, die das unbeschreiblich trauliche Fest hatten mitmachen dürfen. Als die Uhr von der Universitätskirche Mitternacht schlug, fiel man sich gerührt in die Arme. Es kam so weit, daß Professor Schneider