Jetzt war sie eben noch berühmt genug, um etwas Geld aufzutreiben: sie brauchte es für die Reise. Auch das Affidavit konnte sie sich verschaffen. Die Bekannten fragten: Was willst du denn in Amerika? Sie ließ es geheimnisvoll offen; war aber im Herzen entschlossen: Ich verdinge mich als gemeine Magd. Dienstmädchen will ich werden. Sie war eine radikale Natur. Da der Weltruhm auf sich warten ließ, und die Theaterdirektoren lauter Schweine waren, wollte sie nun gründlich elend sein. Nur nichts Halbes! Keine Kompromisse! – Sie fuhr Dritter Klasse, auf einem recht kleinen, obskuren Schiff. Empfehlungsschreiben hatte sie sich verbeten und war erst sogar geneigt gewesen, ihre schönen Pariser Kritiken samt allen Photographien zu verbrennen wie die Briefe eines ungetreuen Geliebten. Dies freilich hatte sie denn doch nicht fertiggebracht. Auf dem Grund ihres Koffers ruhten die Zeitungsausschnitte, sorgsam gebündelt und von einem himmelblauen Seidenband umschlossen, wie die Souvenirs eines jungen Mädchens.
Bei der Landung in New York hatte sie Schwierigkeiten, weil sie gar zu interessant und düster wirkte. Grünes Haar und violette Wangen mißfielen dem Beamten, der ihren Paß kontrollierte: höchstens einer Dame, die Cabin Class fuhr, wäre soviel Extravaganz erlaubt gewesen; bei einem Passagier der Dritten schien es fast kriminell. Ilse mußte nach Ellis Island. ›So ist es recht!‹ dachte sie zähneknirschend. Ihr Ehrgeiz war gleichsam umgeschlagen und hatte sich in fanatischen Masochismus verwandelt. ›Nur zu! Nur weiter in diesem Stil! Behandelt mich nur wie den Aussatz der Menschheit!‹ – Und das tat man denn auch. Ihr bitterer Triumph war vollkommen; denn auf Ellis Island ging es beinah wie in einem Zuchthaus zu. Ilse Ill teilte die triste Zelle mit Ostjüdinnen, die immer weinten, und verzweifelten Negerinnen.
Nach einigen Tagen schickte die freundliche Dame, von welcher das Affidavit stammte, ihren Rechtsanwalt. Ilse ward freigelassen. Der Anwalt sagte verdrossen: »Good luck, Miss!« – und ließ sie stehen.
Sie betrat New York City mit düsterem Frohlocken: Nun werde ich eine Magd! Ilse Ill – vorgestern höchst gefeiert; gestern unschuldig ins Loch geworfen – wird morgen, unerkannt und stolz, in irgendeiner dunklen Küche stehen. Sie wollte die weiße Schürze nehmen, wie den Nonnenschleier. Jedoch kam es anders.
Als sie in einem kleinen Restaurant zu Abend speiste – trotzig um sich blickend, sehr einsam, und auf das äußerste Unglück gefaßt – näherte sich ihr ein Herr mittleren Alters und rief überschwenglich: »Nein, so was! Sie habe ich doch schon mal gesehen!« Sie funkelte böse; er merkte es nicht, sondern erklärte begeistert: »In Paris, vor zwei Jahren! Erinnern Sie sich denn nicht? Ich habe doch so laut applaudiert, nach jedem Ihrer Lieder! Ihr treuester Zuhörer bin ich gewesen! Jeden Abend war ich im Lokal, nur um Ihretwillen – und wäre noch so manches Mal gekommen, wenn mich die Pflicht nicht nach New York gerufen hätte!«
Er hieß Johnson und hatte ein Schuhgeschäft. Ilse beschloß, ihn lächerlich zu finden; war aber bald gewonnen durch seine stürmischen Huldigungen. Nachdem sie zwei Whiskys mit ihm getrunken hatte, mußte sie sich zugeben: Er ist wirklich ein netter Kerl. Im Taxi ließ sie sich die Hand von ihm küssen. Mehr wurde nicht gestattet.
Die Idee, sie könnte Dienstmädchen werden, machte ihn beinah zornig. »So ein Unsinn!« rief er immer wieder. »Eine Person wie Sie!« Im Grunde gab sie ihm recht, trotz allen düsteren Vorsätzen. Indessen weigerte sie sich hartnäckig, sich als seine Geliebte von ihm erhalten zu lassen, obwohl Johnson – ein flotter Junggeselle, nicht reich, aber in angenehmen Verhältnissen – ihr immer wieder versicherte: »Es wäre das einzig Vernünftige!« Sie bestand darauf: »Suche mir eine Stellung – wenn du mir helfen willst.«
Wirklich gelang es ihm, ihr einen »Job« zu verschaffen. Sie wurde Empfangsdame in einem feinen französischen Restaurant. Dort hatte sie nichts zu tun, als zu lächeln. Ihr Platz war am Eingang, neben einer breiten Schale voll Pfefferminzbonbons. Sie sollte einladend wirken. Der Chef des Lokals hatte von ihr verlangt, daß sie sich Haar und Miene ein wenig dezenter färbe. Grün und Violett mußten geopfert werden – sehr zum Bedauern Johnsons, der gerade diese ausgefallenen Nuancen so pikant gefunden hatte.
Hier verlassen wir Ilse Ill, überlassen sie ihrem Schicksal. Vielleicht wird ein Theaterdirektor – weniger instinktlos und korrupt als seine Kollegen – das fleißige Mädchen entdecken, und sie wird am Broadway ihre dritte Karriere starten. Vielleicht wird sie Mr. Johnson heiraten, in dessen Achtung sie natürlich gestiegen ist, weil sie es abgelehnt hat, seine ausgehaltene Mätresse zu sein. Wir wünschen ihr von Herzen das Beste. Oft waren wir geneigt, sie nicht ganz ernst zu nehmen; sie erschien uns etwas affig und prätentiös. Spürte sie nicht selber, im Grunde, daß sie sich recht krampfhaft und geziert benahm? Sie ahnte es wohl; konnte es aber nicht ändern. All ihr Getue war immer nur der angestrengte Versuch, sich zu behaupten; es war die etwas barocke Form ihrer Tapferkeit. Ist es nicht ein mutiges Lächeln, mit welchem sie die Gäste im feinen französischen Restaurant willkommen heißt? Ist es nicht ein fester und braver Blick, mit dem sie sich nun von uns trennt …?
Nicht alle unsere guten alten Freunde haben noch die Energie, so fest und brav zu schauen. Nathan-Morelli blinzelt tödlich ermattet. Wie hochmütig war er einst gewesen: ein intellektueller Grandseigneur, ungebunden, leicht zynisch, mit einer Neigung zum provokant Sarkastischen. Nationalistische Sentimentalitäten lagen ihm denkbar fern; Theo Hummler, den Mann vom Volksbildungswesen, hatte er durch herabsetzende Reden über Deutschland gekränkt. Nun war es gerade Hummler, mit dem er Erinnerungen an die Heimat zu tauschen liebte. »Wie wunderschön ist Berlin!« seufzte Nathan-Morelli. »Als ich dort noch hätte leben können, habe ich es verachtet!« Hummler versicherte ihm: »Sie werden Berlin wiedersehen, lieber Freund! Unsere Arbeit macht Fortschritte …« Und er war bei seinem Thema: der Politik, dem Kampf gegen das Naziregime. Gerade dafür schien Nathan-Morelli sich wenig zu interessieren. Er winkte wehmütig ab. »Lassen Sie nur! Für junge Leute mag das tröstlich sein. Was mich betrifft – ich bin fertig.« – Er lag seit Wochen zu Bett, sein Gesicht verfiel, die klugen Mongolenaugen waren tief umschattet. »Das Herz macht nicht mehr mit«, erklärte er resigniert. »Es kann nicht mehr lange dauern.« – Er glich einem abgemagerten Buddha, wenn er, schräggestellten Hauptes, ins Leere träumte. Seine Miene belebte sich, sobald Fräulein Sirowitsch kam. – Sie lebten zusammen, sahen sich aber nicht oft; denn die Sirowitsch war beschäftigt. Von morgens bis abends saß sie im Bureau an den Champs-Élysées, wo fünf Angestellte mit ihr tätig waren. Ihre Presseagentur hatte internationales Ansehen bekommen. Tausende von Artikeln und Photographien gingen durch Fräulein Sirowitschs tüchtige Hände. Sie mußte sich plagen; ihr kranker Freund hing nicht nur seelisch von ihr ab, sondern auch finanziell. – Sie liebten sich, sie waren sich von Herzen zugetan. Die Sirowitsch genoß innig ihr spätes Glück und durfte sich täglich sagen: Ich habe ihn mir erobert. – Sie war die Herrschende, Aktive in diesem Bunde – Geliebte, mütterliche Freundin, Ernährer – alles in einer Person. Wenn sie bedachte, wie alles zwischen ihnen begonnen und wie schön es sich verändert hatte, kamen ihr Triumphgefühle, neben der Zärtlichkeit. ›Er gehört mir! Er hat sich mir unterworfen!‹ Auch etwas Rachsucht war in ihrer Liebe enthalten.
Aber gehörte er ihr wirklich so ganz? War er nicht schon wieder im Begriffe, zu entgleiten? – Er würde sterben – sie wußte es, und sie litt. Sein eingeschrumpftes Buddha-Gesicht trug schon die Zeichen, vor denen dem Lebenden graut. Die Liebende freilich fürchtet sich nicht, ihn zu küssen. Aber sie erschrickt vor seinem viel zu sanften, viel zu fernen Blick.
War nicht auch dies Heimweh, von dem er jetzt soviel sprach, ein Symptom des Erlöschens? Es bewies wohl, daß er Abschied nehmen wollte. Als er Deutschland verspottete,