Wind über der Prärie. Regan Holdridge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Regan Holdridge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769848
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seinen Namen nannte. Der Matrose wurde allmählich ganz schön schwer.

      „Ah, ein Nordlicht!“, erkannte Doktor Retzner und schmunzelte. „Auch auf dem Weg ins große Abenteuer und das gelobte Land, was?“

      „Nun...“, begann Hubert zögernd, kam jedoch nicht weit.

      „Machen wir uns keine falschen Illusionen!“ Doktor Retzner stieg die nächste Treppe hinauf. „Da wartet mehr Arbeit auf uns, als mir lieb ist! Da gibt’s ja noch gar nichts! Nicht einmal eine vernünftige Organisation!“

      „Nun ja...“, wollte Hubert erwidern, doch er wurde erneut von dem geschwätzigen Arzt unterbrochen: „Ich weiß noch gar nicht, wie ich mich mit meinen Patienten verständigen soll! Man muss ja schon fast alle Sprachen dieser Welt beherrschen, wenn man sich irgendwie durchwursteln will, nicht wahr?“

      „Hmm, ja.“ Mehr fiel Hubert dazu nicht ein und er wollte auch nicht riskieren, ein weiteres Mal nicht zu Wort zu kommen. Außerdem ging ihm sowieso allmählich die Puste aus. Sie brachten den jungen Matrosen zum Schiffsarzt, auf dessen Station, und als dieser versicherte, es bestehe keine Lebensgefahr, verabschiedeten sie sich wieder.

      Müde und erschöpft und doch gleichzeitig aufgewühlt ging Hubert in ihre Kabine zurück. Er schloss die Türe leise hinter sich und stellte fest, dass der Rest seiner Familie mittlerweile ruhig schlief. Er zog die Schuhe aus, ehe er lautlos auf das obere Bett kletterte. Obwohl er sehr behutsam vorging, wachte Nikolaus auf und rieb sich die Augen.

      „Du bist wieder da?“

      „Psst!“, zischte Hubert und legte ihm die Hand auf den Mund. „Du weckst ja alle auf!“

      „Aber“, wisperte sein kleiner Bruder, „ich will doch wissen, was passiert ist!“

      „Nichts!“, flüsterte Hubert ungeduldig. „Nur ein Matrose, der die Treppe hinuntergefallen ist und jetzt vom Arzt versorgt wird.“

      „Ach so“, erwiderte Nikolaus und gähnte. „Dann kann ich ja jetzt schlafen.“

      „Mach’ das und sei still!“ Hubert zog die Bettdecke über sie beide und horchte auf die Atemzüge der anderen: Von Juliane und Luise war nichts zu hören, nur Friedrich schnarchte leise und bedächtig vor sich hin. Hubert starrte an die Decke, die er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Das Erlebnis hatte ihn auf eigenartige Weise bewegt. Wie gerne hätte er nicht bloß dumm dagestanden und zugeschaut, wie dem jungen Mann das Blut über das Gesicht lief. Wie gern hätte er geholfen!

      Ein Leben zu retten, dachte er, ist vielleicht die sinnvollste und gleichzeitig schwierigste Aufgabe, die wir übernehmen können, aber ist sie nicht auch die befriedigendste?

      New York

      Am späten Vormittag des 12. März 1884 dampfte die „Elbe“ im Hafen von New York ein. Alle Passagiere, die Platz fanden, hatten sich schon vor fast einer Stunde auf dem Deck, den Aussichtsplattformen und an der Reling entlang versammelt, um zu erleben, wenn sie in die berühmte Stadt im Osten der Vereinigten Staaten einlaufen würden. Wie ein Lauffeuer sprach sich die Nachricht über die baldige Ankunft herum und alles eilte und rannte hinauf, unter den freien Himmel.

      „Immer mit der Ruhe!“, entschied Friedrich energisch, als seine drei Kinder ebenfalls aufgeregt davonrennen wollten. „Wir kommen genauso schnell an, wenn ihr hier bleibt!“

      „Aber...wenn wir nicht gleich gehen, bekommen wir keinen Platz mehr, an dem wir etwas sehen können!“, rief Juliane und trat nervös auf der Stelle.

      „Also, wirklich!“, entrüstete sich Luise und schüttelte missbilligend den Kopf, während sie sich ihr Cape umlegte. „Wir kommen noch früh genug nach oben!“

      Endlich, für Nikolaus und Juliane kaum abzuwartende, zehn Minuten später führte auch ihr Weg hinauf aufs Deck. Unten, in den Korridoren und den Kabinen herrschte erregte Aufbruchstimmung.

      Sie hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, dass sie nicht sofort in Castle Garden, an der Spitze von Manhattens Insel würden anlegen dürfen. Dort befand sich die Anlegestelle für alle Immigranten. Zuerst würde ein offizieller Gesundheitsinspektor erscheinen und alle Anwesenden an Bord kurz nach irgendwelchen Anzeichen von ansteckenden Krankheiten wie Pocken, Typhus oder Cholera untersuchen. Danach würde er sich die Unterlagen der Todesfälle an Bord zeigen lassen. Wenn alles in Ordnung wäre, würde er ihnen die Erlaubnis geben, zum Zielhafen weiterzufahren, andernfalls würde das komplette Schiff erst einmal unter Quarantäne gestellt.

      All diese organisatorischen Vorgänge waren den meisten Einwanderern völlig unbekannt, während sie sich wild und aufgeregt an Deck drängten. Alle wollten sie nur endlich einen ersten Blick auf Amerika erhaschen. Es herrschte dichtes Gedränge und eine Art Festtagsstimmung schien ausgebrochen zu sein. Ein paar Flaschen Wein wurden herumgereicht, einige junge, wohl bereits angetrunkene Männer sangen deutsche Volkslieder und Hubert beschloss, an einem der Stützseile der Schornsteine ein Stück hinauf zu klettern.

      „Was soll denn das?“, brüllte Friedrich gegen das Stimmengewirr und den Lärm zu ihm hinauf. „Komm sofort wieder herunter!“

      „Aber wieso denn?“, schrie Hubert zurück. „Von hier oben sehe ich viel mehr!“

      Und er blieb, wo er war. Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz mit jeder Minute schneller und stärker in ihm zu schlagen begann. Seine Augen hingen an den Fluten des Meeres, durch das sich der Dampfer schob und zwischen denen in absehbarer Zeit Amerika vor ihnen auftauchen musste. Hubert bekam nicht mit, was unter ihm herum geschah. Er bemerkte weder, dass Nikolaus sich ein Stück weit nach oben zu ihm getraute, noch, wie Juliane sich sanft und doch bestimmt soweit bis zur Reling nach vorn drängte, dass sie etwas sehen konnte.

      „Da!“, brüllte plötzlich jemand hinter ihm und er kniff die Augen zusammen. „Land in Sicht!“

      Wildes Geschrei und Jubelstürme brachen los und jetzt entdeckte auch Hubert, wie sich vor ihnen dunkle Schatten zu erheben begannen. Sie waren am Ziel und auf einmal ging alles sehr schnell. In kürzester Zeit hatten sie das Festland erreicht und der Dampfer drosselte sein Tempo merklich.

      Nachdem der Gesundheitsinspektor sie für einwanderungsfähig befunden hatte, fuhren sie zunächst in gemäßigtem Tempo weiter nach Castle Garden, wo die „Elbe“ endlich Anker legte. Ein letztes Mal stieß sie ihren dumpfen, langgezogenen Pfiff aus, der zum Ende hin schrill anschwoll, dann drängten sich die Passagiere zu den Ausgängen. Sie wollten hinaus, in die kühle, windige Frühjahrsluft, die über die Insel und die Hafenanlage strich. Hinaus in das fremde, unbekannte und unvorstellbar große Land, das sie von nun an ihr Zuhause nennen würden.

      In Lastkähnen und Schleppern wurden die Einwanderer vom Dampfer zum Castle Garden Anlegesteg gebracht, wo erneut einige Sanitätsoffiziere auf sie warteten und sich vergewisserten, dass sich tatsächlich keine kranken Passagiere unter ihnen befanden. Nach dieser Untersuchung und der Prüfung ihres Gepäcks, das erneut in einem separaten Raum verstaut wurde, betraten sie das runde Gebäude mit dem mächtigen Glasdom auf der Kuppel durch einen langen Gang. Sie fanden sich im Zentrum des Rundbaus wieder, wo sie sich in Reih und Glied in unterschiedlichen Abteilungen anstellen mussten, je nachdem, ob jemand der englischen Sprache mächtig war oder nicht.

      „Verflixt und zugenäht!“, fluchte Juliane unbeabsichtigt und verdrehte die Augen, bevor sie sich auf eine der Holzbänke fallen ließ. „Das kann ja Stunden dauern!“ Sie beobachtete die anderen Passagiere, die ebenfalls mit ihrem Schiff angekommen waren und sich kontinuierlich durch die Türe in das Gebäude schoben und drängten.

      „Juliane!“ Der empörte Aufschrei ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken. „Wirst du wohl aufhören, dich wie ein Zigeuner zu benehmen?!“

      „Ja, Mutter!“ Mit einem leisen Ächzen folgte das Mädchen ihrer Familie hinunter zu den zirkelähnlich angeordneten Schreibtischen, wo ein ganzes Dutzend Männer damit beschäftigt war, die Registrierungen der Neuankömmlinge vorzunehmen.

      „Das ist...einfach überwältigend“, bemerkte Hubert