Wind über der Prärie. Regan Holdridge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Regan Holdridge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769848
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um Platz zu haben“, erklärte Friedrich jetzt, während er seinen Hut und das Cape ablegte und beides seiner Tochter reichte. Darunter trug er eine einfache Leinenhose und ein helles Hemd. Luise setzte sich auf das rechte untere Bett, über dem Juliane schlafen sollte.

      „Es erscheint mir ganz unwirklich, dass wir jetzt auf diesem Schiff sind. Geht es dir nicht ähnlich?“, fragte sie und lächelte zufrieden, was ihre harten, energischen Züge ungewöhnlich weich werden ließen.

      Friedrich nickte. „Das ist nur möglich, weil wir für alles, was wir nicht mitnehmen konnten, einen Käufer gefunden haben.“ Er lächelte zufrieden. „Das ist ein Zeichen Gottes, ganz gewiss! Er will, dass ich in dieses Land gehe und den Menschen dort seine Lehre und Weisheit erzähle!“

      „Natürlich ist es das!“, stimmte Luise ihm eilig zu. „Du wirst eine eigene Gemeinde bekommen, mit eigener Kirche und vielen, vielen Gläubigern, die zu deinen Gottesdiensten kommen und deine Predigten hören werden!“

      „Gewiss!“ Friedrich lächelte stolz in sich hinein, die Vorstellung gefiel ihm. „Wir werden Teil eines neuen Volkes sein, einer neuen Lebenseinstellung und zu den Pionieren eines neuen Staates gehören!“ Er konnte seine Euphorie über diese Tatsachen kaum verbergen. Theatralisch begann er, in der kurzen Kabine auf- und abzulaufen. „Der protestantische Glaube wird zur größten und mächtigsten Kirche aufsteigen und wir werden Frieden und Toleranz unter die Wilden bringen!“

      „Und Bildungsmöglichkeiten für Frauen könntest du auch vorantreiben“, warf Juliane trocken ein und schaute ihrem Vater fest in die Augen. „Das ist ebenfalls etwas, was revolutioniert werden muss!“

      Ruckartig hielt Friedrich in seiner Bewegung inne. Er starrte seine Tochter zuerst fassungslos an. Je länger er jedoch Zeit hatte, über ihre Äußerung nachzudenken, desto wütender wurde er.

      „Wozu habe ich dich eine religiöse Erziehung genießen lassen? Wie kannst du es wagen, mir – deinem Vater – gegenüber solche Ungepflogenheiten von dir zu geben?!“

      „Das habe ich in einer von Huberts Zeitschriften gelesen!“, verteidigte Juliane sich und wollte noch hinzufügen, dass sie hoffte, baldmöglichst wieder einen Schulunterricht genießen zu können. Doch der schmerzhafte Schlag der Ohrfeige, die sie rechts und links im Gesicht traf, ließ sie verstummen. Sie kannte das bereits. Es war nicht das erste Mal, dass sie für eine freche, unbedachte Äußerung gezüchtigt und bestraft wurde. Meistens allerdings hatte ihr Vater sie für einen Tag in den Kohlenkeller, zu den Ratten und Mäusen gesperrt. Hier, auf dem Dampfer gab es diese Möglichkeit nicht und so griff er zu einer anderen erzieherischen Maßnahme, die seine Tochter in ihre Grenzen weisen sollte. Zornig starrte Friedrich auf sie hinab. Sie war genauso klein wie ihre Mutter und reichte ihm gerade bis ans Schlüsselbein.

      Fassungslos blickten die großen, bernsteinfarbenen Augen ihn an. Tränen sammelten sich für eine Sekunde darin, doch das Mädchen zwang sie energisch zurück. Auf keinen Fall wollte sie sich den Schmerz anmerken lassen, der auf ihren Wangen brannte.

      „Aber, aber!“ Erschrocken war Luise aufgesprungen und stellte sich zwischen ihren Mann und das junge Mädchen. „Wir haben noch nicht einmal abgelegt! Wollt ihr euch nicht ein bisschen zusammennehmen?“ Sie fixierte ihre Tochter lange. „Und du könntest endlich einmal begreifen, dass sich ein anständiges Mädchen nicht so benimmt! Wann geht das in deinen Dickschädel?“

      Juliane senkte den Kopf und schwieg. Sie wusste, dass ihr Mund wieder einmal schneller gehandelt hatte als ihr Verstand, aber es änderte nichts an ihrer heimlichen Meinung, an ihren Ansichten und ihrem Willen, diese eines Tages durchzusetzen.

      „Ich möchte so gerne hier bleiben, bei meinen Freunden.“ Ihre Stimme war kaum ein Flüstern und sie hatte große Mühe, nicht laut aufzuschluchzen. „Ich bin doch hier zu Hause!“

      „Ach, Kind!“ Erschüttert legte Friedrich seine Hände auf ihre Schultern. Er verabscheute es, wenn er eines seiner Kinder schlagen musste. „Ich weiß, dass es schwer ist für dich. Es wird für keinen von uns einfach sein. Wir müssen viel lernen, eine fremde Sprache zum Beispiel, und wir werden mit sehr vielen verschiedenen Kulturen und Völkern zusammentreffen. All das wird zu Konflikten und Schwierigkeiten führen, da mache ich niemandem von uns eine falsche Hoffnung.“ Der Blick aus seinen braunen Augen glitt über Hubert, Nikolaus und Luise hinweg. Er lächelte kurz. „Aber es ist doch auch eine Herausforderung, ein Stück Veränderung auf unserem Weg und vielleicht ein Ort, an dem wir unsere wahre Aufgabe finden.“

      „Vielleicht“, murmelte Juliane und biss sich auf die Lippen. Es war schwer für sie gewesen mitanzusehen, wie die neuen Besitzer ihre schönen Möbel, das Porzellanservice und das Klavier abgeholt hatten. Sogar einen Teil ihrer Kleider und ihre geliebte Spieluhr in der Dose hatte sie zurücklassen müssen, weil sich dafür in dem wenigen Gepäck, das zugelassen war, kein Platz gefunden hatte. Sie hatte es einem Nachbarmädchen geschenkt, das sich sehr darüber gefreut hatte, aber das war nur ein geringer Trost für den Verlust geliebter Dinge.

      Friedrich tätschelte ihr die Wangen, die sich durch die beiden Schläge rot verfärbt hatten. „Ist schon gut, mein Kind. Du hast deine Gründe, so zu denken...auch, wenn ich sie nicht verstehen kann.“

      Juliane nickte tapfer und sie war froh, Hubert hinter sich zu spüren, der ihr mit einem sanften Stoß mit seinem Zeigefinger in den Rücken zu verstehen gab, dass nichts Schlimmes passiert war und sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.

      Friedrich zog seine Taschenuhr hervor und schaute darauf. „Oh!“, entfuhr es ihm. „Wir sollten uns langsam aufs Deck begeben, wenn wir Bremerhaven noch einmal ‚Auf Wiedersehen‘ sagen wollen!“

      Oben, unter den beiden Schornsteinen, an der Reling, hatten sich bereits Menschentrauben versammelt. Die Sonne strahlte inzwischen vom Himmel und wärmte die Gesichter der Passagiere und derjenigen, die am Pier zurückblieben. Die „Elbe“ stieß zwei langgezogene, ohrenbetäubende Pfiffe aus – es war das Zeichen zur Abfahrt.

      „Kommt hierher!“ Eifrig deutete Hubert auf seinen Platz zwischen einigen jungen Männern, den er sich erobert hatte. Er schob Nikolaus vor sich, sodass der Junge über die Eisenstangen blicken konnte, hinab auf die Anlegestelle, wo unzählige Arme winkten und Taschentücher sich im Wind schwenkten. Es war ein berauschender Anblick. Die Holzprielen wurden eingezogen und die Türen mit einem lauten Schlag verschlossen. Ein paar Matrosen liefen umher und lösten die Taue, die in bedachter Ruhe eingeholt wurden. Im nächsten Augenblick ging ein Rumpeln und eine Erschütterung durch den Schiffskörper. Schwarzer, dicker Rauch stieg aus den beiden Schornsteinen empor. Langsam, sehr langsam legte die „Elbe“ vom Landungssteg ab. Es zischte und rauchte und dampfte und sie glitt durch das Wasser, der Nordsee und dem Ozean entgegen. Die Menschen, die am Pier zurückgeblieben waren, wurden kleiner und kleiner, ebenso wie die Häuser der Stadt Bremerhaven immer winziger wurden und das Spielen der Kapelle leiser – „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus...“

      „Jetzt ist es endgültig“, sagte Hubert leise, sodass nur Nikolaus und Juliane es verstehen konnten, die dicht zusammengedrängt neben ihm standen. „Jetzt sind wir für immer fort von unserer Heimat und dem Ort, wo wir geboren worden sind.“

      „Denkst du wirklich, es ist für immer?“, fragte das junge Mädchen leise und schluckte. Ihr Herz fühlte sich bleiern an und sie glaubte, jeden Moment die Beherrschung zu verlieren. Sie hatten aufgehört, Deutsche zu sein. Bald würden sie zu Amerikanern werden und eine andere Nationalhymne singen. Sie würden eine andere Sprache sprechen und in einem fremden Land leben, das Glück, Erfolg und Reichtum versprach. Doch ganz gleich, wie es dort sein würde – es war nicht ihr Zuhause. Es war die Fremde, die sie ängstigte und die Gewissheit, all ihre Freunde und Nachbarn heute zum letzten Mal in ihrem ganzen Leben gesehen zu haben, die sie traurig stimmte. Die Endgültigkeit war nur schwer für sie zu fassen.

      „Ja“, sagte Hubert ehrlich und starrte hinüber, zu den Häusern, die sich zu kleinen Punkten verwandelten. „Wer einmal nach Amerika ausgewandert ist, kommt nicht mehr zurück.“

      Juliane schaute ihn an. „Glaubst du, wir werden es schaffen?“, wollte sie wissen und flehte, er würde sie nicht belügen. Sie wollte