Wind über der Prärie. Regan Holdridge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Regan Holdridge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769848
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was sie erwartete.

      „Nun...“ Er seufzte. „Von allem, was ich so gehört habe, ist es oft schwierig und gefährlich. Die Indianer wollen sich ihr Land nicht wegnehmen lassen und es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen. Nicht überall gilt bereits Gesetz und Ordnung und es gibt viele Banditen. Dieses Land ist noch nicht bezwungen und wir werden ein Teil der Geschichte werden. Vielleicht werden wir miterleben wie es ruhiger und sicherer wird, wir werden selber Geschichte schreiben.“

      „Ein Teil der Geschichte“, wiederholte Juliane nachdenklich und starrte hinunter auf das dunkle, wellenschlagende Wasser. „Und welchen Preis müssen wir dafür bezahlen, Hubert? Für welchen Preis werden wir zu den Pionieren gehören? Ich habe so viel Schreckliches gelesen...“

      Er wandte den Kopf und schaute sie an, verblüfft über ihren scharfen Blick für die Wirklichkeit. Er wusste darauf nichts zu erwidern, außer ihr stumm rechtzugeben. Niemand konnte ihnen sagen, wohin diese Auswanderung führen würde und er verdrängte jede Vorstellung an Schlechtes, so gut er konnte. Er freute sich auf dieses Land, auf all die Menschen unterschiedlichster Rassen, er wollte sich freuen und anstatt der Gefahren nur die Möglichkeiten sehen. In seinem Kopf entstand bereits das Bild seines eigenen Häuschens, irgendwo auf einem riesigen Stück Land, das er dann selbst bewirtschaften konnte und auf dem er Schafe züchten wollte.

      Die ersten Tage auf See verliefen ohne Störungen oder Abwechslung verschaffende Zwischenfälle, zumindest abgesehen davon, dass Juliane, Hubert und Luise die ersten drei Tage unter entsetzlicher Seekrankheit litten. Danach jedoch hatten sie sich an den Wellengang gewöhnt und jeder bemühte sich, die beginnende Langeweile und den öden Anblick des immer gleichen Meeres auf irgendeine Weise zu bekämpfen und sich anderweitig zu beschäftigen. Friedrich lernte zusammen mit Luise und seinen drei Kindern jeden Tag mehrere Stunden englische Grammatik und Vokabeln. Er wollte, dass sie der Sprache halbwegs mächtig wären, wenn sie in New York einliefen. In der wenigen Zeit dazwischen ging er meistens spazieren und weil alle Passagiere ihn mit seiner langen, schwarzen Kutte sofort als Geistlichen erkannten, kam er von diesen Erkundungsgängen oft lange nicht zurück. Die Menschen vertrauten ihm ihre Probleme und Sorgen an, baten ihn um Rat oder Unterstützung und er fühlte sich ihnen verpflichtet.

      Es war der sechste Tag, nachdem sie Bremerhaven hinter sich gelassen hatten. Hubert und Juliane strichen auf dem Deck umher, wo ein kalter Nordwind pfiff und ihnen den Aufenthalt bald verleidete. Nikolaus spielte mit ein paar anderen Kindern und einem Ball aus zusammengeknüpften Stoffresten. Keinem von ihnen schien kalt zu sein.

      Juliane beobachtete ihren kleinen Bruder inmitten der anderen Kinder, die aus ganz Deutschland stammten und alle mit ihren Eltern nach Bremerhaven gereist waren, um von dort aus die „Elbe“ zu besteigen.

      „Er ist viel kleiner als die anderen“, stellte sie auf einmal fest, während sie sich an die Reling lehnte. Hubert folgte ihrem Blick und nickte kurz.

      „Stimmt“, gab er zu und betrachtete den schmächtigen Jungen mit demselben braunen Haar wie das seine. „Das wird vermutlich mit der Lungenentzündung zusammenhängen, die er als Kleinkind hatte.“

      „Wahrscheinlich“, nickte Juliane nachdenklich. Sie und ihre beiden Brüder waren die einzig Überlebenden der sieben Kinder, die ihre Mutter geboren hatte. Alle anderen lagen auf dem Friedhof ihrer Kirche beerdigt, gerade einmal mehrere Wochen oder Monate alt geworden.

      „Was ist?“, fragte Hubert, während er das junge Mädchen eindringlich betrachtete. „Du schaust auf einmal entsetzlich verbittert aus! He, du bist ganze sechzehn!“ Er boxte sie aufmunternd in die Seite. „Du hast dein ganzes Leben noch vor dir und nur, weil wir jetzt auswandern...daraus lässt sich etwas machen!“

      „Ja, schon...“ Juliane legte den Kopf schief, ohne ihre Augen von einem unbestimmten Punkt, irgendwo hoch oben am vorderen Schornstein, abzuwenden. „Ich musste nur gerade an die anderen denken.“

      Die anderen...Hubert seufzte. Er kannte das bereits. Immer wieder kam sie auf ihre verstorbenen Geschwister zu sprechen und manchmal fragte er sich, inwiefern sie der Tod all dieser Kinder geprägt und vielleicht auch verändert hatte. Sie war als zweite nach ihm geboren worden. Die beiden Schwestern, die kurz hintereinander auf die Welt gekommen waren, hatten beide nicht überlebt, erst wieder Nikolaus. Und dann waren nach ihm noch einmal zwei Mädchen gewesen, die es ebenfalls nicht geschafft hatten.

      „Das ist vorbei“, sagte Hubert ausweichend und verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah noch heute seine Mutter dasitzen, gegrämt und voller Trauer. „Das ist eben so. Das ist das Leben.“

      „Ich werde das nie verstehen“, erwiderte Juliane mit einer derartigen Emotion in der Stimme, die ihren großen Bruder erstaunt aufblicken ließ. „Da quält sich eine Frau mit dieser Geburt und dann? Wozu? Damit ihr Kind gar nicht groß werden darf?“

      Hubert schluckte. Das war es also – sie empfand den Tod als eine Ungerechtigkeit, aber nicht etwa gegenüber den Kindern, nein, sondern gegenüber der Mutter, der diese Qualen auferlegt wurden.

      „Schau, ich verstehe auch nicht recht, wieso das sein muss. Vielleicht gehört es einfach zum Leben dazu. Mach’ dir nicht so viele Gedanken.“

      „Ich muss!“, widersprach Juliane ernst. „Schließlich werde ich auch eines Tages eine Frau sein, die Kinder zu Welt bringen soll und ich möchte nicht so viele von ihnen verlieren!“

      Hubert lächelte sanft. Er ahnte, welch tiefes Gefühlsleben, unendlich viele Grübeleien hinter der rebellischen, selbstbewussten Fassade seiner kleinen Schwester steckten. Er ahnte auch, dass sie sich nicht in dieses Schicksal fügen wollte.

      „Irgendwann wirst du heiraten und dir keine Gedanken mehr darüber machen, weil du mit lauter Hausarbeit gar nicht mehr dazu kommst!“ Es sollte aufmunternd klingen, doch seine Schwester starrte ihn nur verständnislos an.

      „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt jemals heiraten werde“, entgegnete sie bissig und es schien ihr vollster Ernst. „Ich habe schon zu viele junge Frauen gesehen, die bei der Geburt ihrer Kinder gestorben sind und die Vater dann beerdigen musste.“

      Hubert senkte den Blick. „Auch das, ja...“ Er seufzte. „Aber du wirst sehen, dass dich das eines Tages nicht mehr stört, nämlich dann, wenn du dem Mann gegenüberstehst, den du liebst und...“

      „Das glaube ich nicht!“, fiel Juliane ihm trotzig ins Wort und sie zog ihren Mantel enger. Der Wind wurde immer stürmischer und kühler.

      Hubert schmunzelte. „Das kannst du nur behaupten, weil du noch nie verliebt gewesen bist!“

      Verdutzt und neugierig zugleich schaute Juliane ihn an. „Aha! Sag bloß, du hast damit schon Erfahrungen gesammelt!“

      Mit einem verschmitzten Grinsen zuckte ihr Bruder die Schultern. „Es gab da schon das ein oder andere Mädchen...“

      „Hubert Kleinfeld!“ Entrüstet stemmte Juliane die Arme in ihre schmalen Hüften. „Das hätte ich nicht von dir gedacht!“

      Er lachte leise auf. „Es ist das Natürlichste auf der Welt, Julchen!“

      „Nenn mich nicht Julchen! Ich bin kein kleines Kind mehr!“

      „Manchmal schon. Trotzdem ist es ganz natürlich!“ Er kniff ihr frech in die Wange. „Aber ich hab’ ja keine von ihnen geheiratet!“

      „Das hätten Vater und Mutter dir auch nie verziehen“, warf das junge Mädchen ein. Sie wandte sich ab und stolzierte hocherhobenen Hauptes davon, um Nikolaus von den anderen Kindern fort, in ihre Kabine zu bringen. Sie fürchtete, er könnte sich sonst erkälten.

      Hubert sah ihr nach. Sie war eine junge Dame geworden, seine kleine Schwester. Irgendwann, das wusste er, würde der Mann kommen, der ihr Denken und ihre Ansicht veränderte und dann würde es ihr ganz gleich sein, ob sie einmal oder zehnmal ein Kind austragen musste. Hubert schmunzelte in sich hinein. Sie kannte den Weg, auf dem ein Kind in den Körper einer Frau gelangte noch nicht, aber er, er kannte ihn – zumindest theoretisch – und er wusste, dass es in diesem Augenblick nicht zählte, was danach sein könnte.

      Er