»Antipe! spann den Schecken an! Der junge Herr fährt zum Deutschen hin.«
Sein Herz erbebt. Er geht traurig zur Mutter hin. Diese kennt schon den Grund und beginnt die Pille zu vergolden, indem sie selbst heimlich über die Trennung auf eine ganze Woche seufzt. Man weiß nicht, was alles man ihm an dem Morgen vorsetzen soll, man bäckt für ihn Semmeln und Kringel, gibt ihm Gesalzenes, Gebackenes, Gesottenes, verschiedene Obstmarmeladen und allerlei andere trockene und flüssige Leckereien und selbst Lebensmittel mit. Das alles geschieht in der Voraussetzung, daß man beim Deutschen nicht zu reichlich gefüttert wird.
»Dort wird man nicht fett«, sagten die Oblomower; »zu Mittag geben sie Suppe, Braten und Kartoffeln, zum Tee Butter und zum Abendbrot gibt es leere Schüsseln.«
Übrigens träumte Ilja Iljitsch meistens von den Montagen, an denen er Wassjkas Stimme, die den Schecken einzuspannen befahl, nicht hörte und an denen die Mutter ihn beim Tee mit einem Lächeln und mit der angenehmen Nachricht empfing:
»Heute fährst du nicht; am Donnerstag ist ein großer Feiertag; lohnt es sich denn für drei Tage hin- und herzufahren?«
Oder sie erklärt ihm plötzlich, daß jetzt die Gedenkwoche ist. »Jetzt hat man zum Lernen keine Zeit. Wir werden Pfannkuchen backen.«
Oder die Mutter blickt ihn auch Montagfrüh forschend an und sagt:
»Du hast trübe Augen. Bist du wohlauf?« und schüttelt den Kopf.
Der Schelm ist wohlauf wie ein Fisch im Wasser, aber er schweigt.
»Bleibe diese Woche zu Hause«, sagt sie, »und dann werden wir sehen, was Gott uns gibt.«
Und alle im Hause waren davon überzeugt, daß das Lernen und der Gedenk-Samstag nicht zusammentreffen dürfen oder daß ein Feiertag am Donnerstag ein unbezwingbares Hindernis für das Lernen während der ganzen Woche sei. Nur ab und zu brummte ein Diener oder eine Magd, die des jungen Herrn wegen geschimpft worden waren:
»Wart nur, du Tunichtgut! Wirst du schon bald zu deinem Deutschen abfahren?«
Ein anderes Mal erscheint plötzlich Antipka beim Deutschen auf dem bekannten Schecken am Anfang oder in der Mitte der Woche, um Ilja Iljitsch abzuholen.
»Es ist Marja Sawischna oder Natalja Fadjewna oder es sind die Kusowkows mit allen Kindern zu Besuch gekommen. Sie sollen also mit mir nach Hause fahren!«
Und Iljuscha bleibt drei Wochen lang zu Hause, und dann ist die Karwoche nicht mehr weit, oder es kommt ein Feiertag, oder jemand von der Familie beschließt, daß während der Thomaswoche nicht gelernt wird; dann bleiben nur noch zwei Wochen bis zum Sommer, und es lohnt sich nicht hinzufahren; im Sommer ruht der Deutsche selbst aus, so daß man das Lernen am besten bis zum Herbst verschiebt. Und, siehe da ... Ilja Iljitsch erholt sich in dem halben Jahre; und wie er während der Zeit gewachsen ist! Wie dick er geworden ist! Wie gut er schläft! Man kann ihn im Hause gar nicht genug bewundern und bemerkt dabei, daß das Kind mager und blaß ist, wenn es vom Deutschen zurückkehrt.
»Wie leicht kann ein Unglück geschehen!« sagten Vater und Mutter, »das Lernen läuft nicht davon, man kann sich aber keine Gesundheit kaufen; die Gesundheit ist das Teuerste im Leben. Er kommt vom Lernen wie aus einem Spital heraus; sein ganzes Fett geht verloren, er wird so mager ... und er ist auch so ein Wildfang; er möchte immer laufen!«
»Ja«, bemerkte der Vater, »das Lernen ist kein Spaß, es jagt einen jeden ins Bockshorn.«
Und die zärtlichen Eltern suchten nach einem neuen Vorwand, um den Sohn zu Hause zu behalten; es gebrach auch außer den Feiertagen nicht an Ausreden. Im Winter kam es ihnen zu kalt vor, in der Sommerhitze konnte man auch nicht fahren, manchmal regnete es auch, und im Herbst störte die Nässe. Manchmal kommt ihnen Antipka nicht ganz vertrauenswürdig vor; er ist nicht betrunken, schaut aber so wild drein; es könnte etwas zustoßen, er wird irgendwo steckenbleiben oder abstürzen.
Die Oblomows bestrebten sich übrigens, jeden Vorwand vor ihren eigenen Augen möglichst zu begründen, besonders aber Stolz gegenüber, der sowohl ihnen ins Gesicht wie auch hinter ihrem Rücken dieser Verzärtelung wegen mit Donnerwettern nicht geizte. Die Zeiten des Prostakows und Skotinins3 waren längst vorüber. Das Sprichwort: Lernen ist Licht, Unwissenheit Finsternis, wanderte schon durch die Flecken und Dörfer, zugleich mit den durch die Hausierer verbreiteten Büchern. Die Eltern begriffen den Vorteil der Bildung, aber nur den äußern. Sie sahen, daß alle Karriere machten, das heißt einen hohen Rang, Orden und Geld erlangten, und das nur durch Lernen; daß die alten Schreiber, die im Amt verknöcherten Sachkundigen, die bei ihren längst angenommenen Gewohnheiten, Kniffen und Gänsefüßchen gealtert waren, jetzt schlecht dran waren. Es verbreiteten sich drohende Gerüchte von der Notwendigkeit, nicht nur des Schreibens und Lesens kundig zu sein, sondern auch mit allerlei in diesen Kreisen unbekannten Wissenschaften vertraut zu sein. Zwischen einem Titularrat und einem Kollegienassessor hatte sich ein Abgrund aufgetan, der nur durch ein Diplom zu überbrücken war. Die alten Beamten, die als Gewohnheitstiere aufwuchsen und mit Bestechungsgeldern genährt wurden, begannen zu verschwinden. Viele, die noch nicht Zeit gehabt hatten zu sterben, wurden wegen Unverläßlichkeit fortgejagt, andere wurden dem Gerichte übergeben; am glücklichsten waren noch diejenigen zu nennen, welche mit der neuen Sachlage nichts zu tun haben wollten und sich mit heilen Knochen in ihre wohlerworbenen Nester verkrochen.
Die Oblomows sahen das alles und begriffen den Vorteil der Bildung, doch nur diesen augenscheinlichen Vorteil. Von dem inneren Bedürfnis, zu lernen, hatten sie noch einen sehr vagen und unbestimmten Begriff, und darum wollten sie für ihren Iljuscha einige glänzende Vorrechte erhaschen. Sie träumten von einer gestickten Uniform für ihn, stellten sich ihn als Bureauchef vor, und die Mutter verstieg sich sogar bis zum Gouverneur; doch sie wollten das alles irgendwie mit billigen Mitteln, mit allerlei Kniffen erreichen, die auf dem Wege zur Bildung und den Ehren verstreuten Steine und Hindernisse heimlich umgehen, ohne sich die Mühe zu geben, darüber zu springen, das heißt, sie wollten ihn nur soviel lernen lassen, daß weder die Seele noch der Körper erschöpft und die gesegnete, in der Kindheit erworbene Fülle verloren werde, bloß um die vorgeschriebene Form einzuhalten und irgend wie ein Zeugnis zu erlangen, in dem es heißen sollte, daß Iljuscha sich alle Wissenschaften und Fertigkeiten angeeignet habe.
Dieses ganze Oblomower Erziehungssystem fand in der Stolzschen Methode eine starke Opposition. Der Kampf war beiderseits sehr hartnäckig. Stolz traf seine Gegner offen, geradeaus und beharrlich, und sie wichen den Schlägen durch die erwähnten und durch andere Schliche aus. Der Sieg wurde nie entschieden. Die deutsche Beharrlichkeit hätte vielleicht über den Eigensinn und die Verstocktheit der Oblomower gesiegt, doch der Deutsche stieß in seinem eigenen Hause auf Schwierigkeiten, und das Schicksal wollte es, daß der Sieg sich weder auf die eine noch auf die andere Seite hin neigte. Es handelte sich nämlich darum, daß der Sohn von Stolz Oblomow verwöhnte, indem er ihm die Aufgaben vorsagte oder für ihn übersetzte.
Ilja Iljitsch sieht deutlich seine Lebensweise zu Hause und bei Stolz vor sich. Sowie er zu Hause erwacht, steht schon Sacharka, später sein berühmter Kammerdiener Sachar Trofimitsch, vor seinem Bett.
Sachar zieht ihm, wie es zuvor die Kinderfrau getan hatte, die Strümpfe und Schuhe an, und Iljuscha, schon ein vierzehnjähriger Knabe, tut nichts, als ihm bald den einen, bald den anderen Fuß hinstrecken; und sowie ihm irgend etwas nicht paßt, versetzt er Sacharka mit dem Fuß einen Stoß auf die Nase. Wenn der unzufriedene Sacharka sich darüber zu beklagen wagte, bekam er auch noch von den Erwachsenen Prügel. Dann kämmt ihn Sacharka, zieht ihm den Rock an, indem er Ilja Iljitschs Hände vorsichtig in die Ärmel steckt, um ihn nicht zu sehr anzustrengen, und erinnert den jungen Herrn daran, daß er das eine oder andere tun muß; zum Beispiel daß man sich des Morgens beim Aufstehen wäscht usw.
Wenn Ilja Iljitsch etwas wünscht, braucht er nur zu blinzeln – und drei, vier Diener stürzen hin, um seinen Wunsch zu erfüllen; wenn er etwas fallen läßt, wenn man etwas herunterreichen oder hinlaufen und etwas bringen soll, hat er als ein lebhafter Knabe Lust, sich darüber herzustürzen und alles selbst