Oblomow. Iwan Alexandrowitsch Gontscharow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iwan Alexandrowitsch Gontscharow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175385
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die Gespenster auch verschwindet, bleibt doch ein Überrest von Angst und unfaßbarer Bangigkeit zurück. Ilja Iljitsch hat erfahren, daß es keine Ungeheuer gibt, die Unheil anrichten, er weiß aber kaum, wodurch es verursacht wird, erwartet bei jedem Schritt etwas Schreckliches und fürchtet sich; auch jetzt noch zittert er, von einer unbezwinglichen, in der Kindheit in seine Seele gesäten Bangigkeit erfaßt, wenn er im dunklen Zimmer bleibt oder einen Toten sieht; er lacht des Morgens über seine Angst und erbleicht wieder am Abend.

      Dann sah sich Ilja Iljitsch als dreizehn-, vierzehnjährigen Knaben. Er lernte schon im Flecken Werchljowo, fünf Werst von Oblomowka entfernt, beim dortigen Verwalter, dem Deutschen Stolz, der für die Kinder der Edelleute der Umgegend ein kleines Pensionat eingerichtet hatte. Er hatte einen eigenen Sohn, Andrej, der fast im selben Alter wie Oblomow war, und noch einen Knaben, den er aufgenommen hatte, der fast niemals lernte, sondern meistens an Skrofeln litt und die ganze Kindheit mit verbundenen Augen oder Ohren verbrachte; er weinte heimlich, weil er nicht bei der Großmutter, sondern in einem fremden Hause inmitten von Bösewichtern lebte, weil niemand ihn liebkoste und niemand ihm seinen Lieblingskuchen backte. Außer diesen Kindern gab es keine anderen in der Pension.

      Vater und Mutter mußten sich darein fügen und den Wildfang Iljuscha lernen lassen. Das kostete Tränen, Heulen und Launen. Endlich führte man ihn fort. Der Deutsche war ein tüchtiger, strenger Mensch, wie fast alle Deutschen. Vielleicht hätte Iljuscha bei ihm auch etwas Ordentliches gelernt, wenn Oblomowka von Werchljowo fünfhundert Werst entfernt gewesen wäre. Wie sollte er aber so lernen? Der Reiz der Oblomower Umgebung, Lebensweise und Gewohnheiten erstreckte sich bis nach Werchljowo; auch dort war ja einst Oblomowka gewesen; dort atmete alles, außer dem Stolzschen Hause, dieselbe Trägheit, Ungekünsteltheit der Sitten, Ruhe und Reglosigkeit aus. Der Verstand, das Herz des Kindes waren von allen Bildern, Szenen und Sitten dieses Lebens erfüllt, bevor es das erste Buch in die Hand bekam. Und wer weiß, wie früh die Entwicklung des geistigen Kernes im kindlichen Hirn beginnt? Wie kann man das Keimen der ersten Begriffe und Eindrücke in der kindlichen Seele verfolgen? Vielleicht während das Kind die Worte noch kaum aussprach oder auch noch gar nicht aussprach und selbst noch nicht gehen konnte und nur alles mit jenem starren, stummen kindlichen Blick betrachtete, den die Erwachsenen stumpf nennen, sah es und erriet es schon die Bedeutung und den Zusammenhang der Erscheinungen der es umgebenden Sphäre, gestand das nur weder sich selbst noch andern ein. Vielleicht bemerkte und verstand Iljuscha schon längst, was in seiner Gegenwart gesprochen und getan wurde: wie sein Papa in Plüschhosen und einer wattierten braunen Tuchjoppe den langen, lieben Tag mit den Händen auf dem Rücken aus einer Ecke in die andere geht, Tabak schnupft und sich schneuzt und die Mutter vom Kaffee zum Tee und vom Tee zum Mittagessen übergeht; wie es dem Vater niemals zu kontrollieren einfällt, wieviel Garben gemäht worden sind, und eine etwaige Fahrlässigkeit zu bestrafen, wie er aber, wenn ihm sein Taschentuch nicht schnell genug gereicht wird, über Unordnung schimpft und das ganze Haus auf den Kopf stellt. Vielleicht hatte sein kindlicher Verstand längst beschlossen, daß man so und nicht anders leben sollte, als die Erwachsenen um ihn herum lebten. Ja, wie sollte er auch einen anderen Beschluß fassen! Und wie lebten die Erwachsenen in Oblomowka?

      Stellten sie sich die Frage, wozu das Leben ihnen gegeben war? Gott weiß! Und wie beantworteten sie diese? Wahrscheinlich gar nicht. Das erschien ihnen sehr einfach und klar. Sie hatten nichts von einem sogenannten mühevollen Leben gehört, von Menschen, die quälende Sorgen in der Brust trugen, die aus irgendeinem Grunde von einem Ort zum andern über das Antlitz der Erde irrten oder ihr Leben der ewigen, endlosen Arbeit weihten. Die Einwohner von Oblomowka glaubten auch nicht recht an seelische Stürme; sie hielten den Kreislauf des ewigen Strebens irgend wohin und nach irgendwas nicht für das wahre Leben; sie fürchteten sich vor dem Drang der Leidenschaften wie vor dem Feuer, und während bei anderen Menschen der Körper durch die vulkanische Arbeit der inneren seelischen Flamme schnell aufgebraucht wurde, ruhte die Seele der Oblomower friedlich, ohne Störungen im weichen Körper. Das Leben zeichnete sie weder durch frühzeitige Furchen noch durch zerrüttende moralische Schläge und Leiden. Diese guten Menschen faßten das Leben nicht anders als ein Ideal der Ruhe und Untätigkeit auf, das ab und zu durch allerlei unangenehme Zufälle, wie Krankheiten, Verluste, Streitigkeiten und unter anderem durch Arbeit gestört wurde. Sie ertrugen die Arbeit als eine Strafe, die noch unseren Vorvätern auferlegt wurde, die sie aber nicht lieben konnten und von der sie sich bei jeder Gelegenheit befreiten, da sie das für möglich und sogar für nötig hielten.

      Sie brachten sich niemals durch irgendwelche nebelhaften geistigen oder moralischen Fragen in Verwirrung; darum erfreuten sie sich auch immer des Frohsinns und einer blühenden Gesundheit, darum lebten sie dort so lange; die Männer erinnerten mit vierzig Jahren an Jünglinge; die Greise kämpften nicht mit einem schweren, qualvollen Tod, sondern starben gleichsam verstohlen, erstarrten still und hauchten unmerklich ihren letzten Seufzer aus, nach dem sie unerhört lange gelebt hatten. Darum heißt es auch, daß die Menschen früher kräftiger waren. Ja, sie waren in der Tat kräftiger. Früher beeilte man sich nicht, dem Kinde den Sinn des Lebens zu erklären und es dazu wie zu etwas sehr Kompliziertem und Ernstem vorzubereiten; man quälte es nicht mit Büchern, welche im Kopfe eine Menge von Fragen erzeugen, die am Hirn und Herzen nagen. Die Norm des Lebens war fertig und war ihnen von den Eltern beigebracht worden, die sie ebenfalls fertig vom Großvater und dieser vom Urgroßvater mit dem Vermächtnis übernommen hatten, über deren Unberührtheit und Heiligkeit wie über das Feuer der Vesta zu wachen. Wie alles bei Lebzeiten der Großväter und Väter getan wurde, so wurde es auch unter Ilja Iljitschs Vater und so wird es vielleicht bis heute in Oblomowka getan.

      Worüber hatten sie denn zu sinnen und sich zu erregen, was zu ergründen und welche Ziele zu erreichen? Das war alles unnötig. Das Leben rann wie ein ruhiger Fluß an ihnen vorbei, sie brauchten nur am Ufer dieses Flusses zu bleiben und die unvermeidlichen Erscheinungen zu beobachten, welche ungerufen der Reihe nach vor einem jeden von ihnen erstanden.

      Und auch der Phantasie des schlafenden Ilja Iljitsch zeigten sich ebenfalls der Reihe nach, gleich lebenden Bildern, die drei Hauptmomente des Lebens, die sich ebensowohl in seiner Familie wie auch bei den Verwandten und Bekannten abspielten: Geburt, Hochzeit und Begräbnis. Dann folgte eine bunte Prozession ihrer freudigen und traurigen Unterabteilungen: Taufen, Namenstage, Familienfeste, Fastenanfang und -ende, geräuschvolle Diners, Familienbesuche, Begrüßungen, Gratulationen, offizielle Tränen und Lächeln. Alles wurde so genau, so ernsthaft und feierlich erfüllt. Er sah sogar bekannte Personen vor sich und ihren Ausdruck bei verschiedenen Gelegenheiten, ihre Besorgtheit und Geschäftigkeit. Wenn man ihnen eine noch so kitzlige Heiratsvermittlung, eine noch so feierliche Hochzeit oder einen Geburtstag einzurichten übergeben hätte, würden sie alles nach allen Regeln, ohne die geringste Fahrlässigkeit besorgt haben. Warum es sich darum handelte, welcher Platz einem jeden der Anwesenden anzuweisen war, wie und was aufgetragen werden sollte, wer mit wem während der Zeremonie zu fahren hatte, wie man sich bei irgendeinem Vorzeichen verhalten mußte, dagegen ward in Oblomowka nie auch nur der geringste Verstoß begangen. Verstand man dort etwa nicht ein Kind aufzuziehen? Man braucht sich nur anzuschauen, was für rosige und gewichtige Kupidos die dortigen Mütter tragen und führen. Sie bestehen darauf, daß die Kinder dick, weiß und gesund sein müssen. Sie werden dem Frühling abschwören und nichts davon wissen wollen, wenn sie bei seinem Antritt nicht eine Lerche gebacken haben. Wie sollten sie das nicht alles wissen und nicht erfüllen? Das ist ihr ganzes Leben und Wissen, darin sind alle ihre Leiden und Freuden. Sie gehen darum jeder anderen Sorge und Trauer aus dem Wege, weil ihr Leben immer von diesen unvermeidlichen Urereignissen erfüllt war, die ihrem Verstand und ihrem Herzen unendliche Nahrung boten. Sie erwarteten mit Herzklopfen irgendeinen Vorgang, ein Festessen, eine Zeremonie, um später, nachdem der Mensch getauft, verheiratet oder begraben, ihn selbst und sein Schicksal zu vergessen und sich in ihre gewohnte Apathie zu versenken, aus der sie durch einen neuen, ähnlichen Fall, einen Geburtstag, eine Hochzeit usw. aufgerüttelt wurden. Sowie ein Kind geboren wurde, war die erste Sorge der Eltern, wie man am genauesten, ohne das geringste zu vergessen, alle vom Anstand geforderten Zeremonien, in diesem Falle das Taufessen, bewerkstelligen sollte; dann begann die sorgfältige Pflege des Kleinen. Die Mutter stellt sich und der Kinderfrau die Aufgabe: ein gesundes Kind aufzuziehen, es vor Erkältung, vor einem bösen Blick und anderen feindlichen Umständen zu hüten. Man war voll Eifer darum besorgt, daß das Kind stets lustig sei und viel esse. Sowie der Bursche auf