Grenzgold. Carlo Fehn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carlo Fehn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754928882
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Pytlik, auf einer kleinen Runde und der gleichzeitigen Suche nach Franziska am Mitternachtsbuffet vorbeizuschauen und sich dort noch etwas zu gönnen.

      Zunächst verweilte er aber noch einige Augenblicke und überlegte. Jahrzehntelang hatte er nun bereits interessante, nie langweilige und manchmal nervenaufreibende Polizeiarbeit hinter sich. Die Spannbreite war bei ihm mittlerweile sehr groß. Da hatte es nüchterne und betrunkene Verkehrsteilnehmer gegeben, die meinten, ihn bezüglich der Angemessenheit der Sanktionen belehren zu müssen. Prügelknaben, die sich erst nach einer Nacht in der Ausnüchterungszelle überhaupt erinnern konnten, was am Vorabend passiert war. Tatsächlich musste auch die eine oder andere Katze vom Baum gerettet werden, und sein Assistent Cajo Hermann war bei einem Einsatz sogar fast einmal von einer Giftschlange gebissen worden.

      In der jüngeren Vergangenheit waren es aber auch immer wieder schreckliche Verbrechen, bei denen der Hauptkommissar tief in menschliche Abgründe hatte blicken müssen. Und auch, wenn er sich dabei immer wieder fragte, wie es zu solch schrecklichen Taten kommen konnte, hatte er es nie bereut, diesen Beruf ergriffen zu haben. In der einen oder anderen brenzligen Situation mochte er möglicherweise darüber nachgedacht haben.

      Er fühlte sich bei seiner Arbeit auch deswegen am richtigen Ort, weil er sich neben seinem Team in der Dienststelle am Kaulanger vor allem auch auf einen ganz wichtigen Partner verlassen konnte: seinen Instinkt! Da war sicherlich nicht irgendein Abflussrohr verstopft, auch würden die Getränkevorräte noch ausreichend sein. Das, was dem Gastgeber vor wenigen Minuten mitgeteilt worden war, bereitete diesem Sorgen. Und Pytliks Instinkt sagte ihm, dass er als Polizist an diesem Abend noch gefragt sein würde.

      Der Hauptkommissar war hinaufgegangen ins Erdgeschoss, wo er sich gerade einen Teller mit Lachs, Käse und ein bisschen Obst zurechtmachte. Pytlik hatte Franziska noch nicht gefunden, und er vermutete, dass sie zusammen mit ihrer Schwester in einem Zimmer hinter verschlossener Tür deren Probleme besprach und versuchte, ihr den nötigen Beistand zu geben. Er machte sich zwar keine Sorgen, würde nach seiner kleinen Zwischenmahlzeit aber dennoch seine Suche erneuern. Erst jetzt überlegte er, ob das eine – Kaisers plötzliches Verschwinden – mit dem anderen vielleicht zu tun hatte. Er hielt kurz inne, steckte sich dann aber den kleinen Spieß mit Käse und einer roten Weintraube in den Mund.

      Das bunte Treiben fand immer noch in der Schwimmhalle statt. Nur vereinzelt standen in dem großen Wohnbereich Pärchen an den zahlreichen Bistrotischen und unterhielten sich gediegen, teilweise verliebt, hier und da aneinander vorbeiredend. Aufmerksamkeit hatten die Paare alle nur für sich selbst und sie schienen dem wilden Treiben eine Etage tiefer nichts abgewinnen zu können. Die eher angenehme Atmosphäre wurde allerdings unvermittelt gestört.

      Durch die große Eingangstür kam der Gastgeber zurück, begleitet von zwei Sicherheitsleuten. Er war noch immer in den langen Bademantel gehüllt und ließ sich gerade von einem der beiden Männer ein weiteres Handtuch reichen. Er lief schnurstracks auf Pytlik zu, zeigte zunächst mit einem ausgestreckten Finger auf ihn und legte dann den Kopf auf eine Seite.

      »Ich brauche dich!«

      Stunden vorher, als Pytlik noch nicht hinter Kaisers Fassade geblickt hatte, was ihm mittlerweile einigermaßen gelungen war, hätte sich der Hauptkommissar sicherlich stur gezeigt. Auch jetzt wollte er nicht den Eindruck aufkommen lassen, dem Schwager seiner Lebensgefährtin lakaienhaft aufs Wort zu gehorchen. Mit entsprechender Ruhe, etwas provokant und ohne, dass es wirklich notwendig gewesen wäre, legte er zunächst noch etwas vom Buffet auf seinen Teller nach. Kaiser war bereits weitergegangen. Auf der ersten Stufe der Treppe hinauf zur Galerie blieb er stehen und drehte sich um.

      »Was ist? Es ist wichtig! Sehr wichtig!«, bekam Kaisers Stimme nun eine unangenehme Schärfe. Erst jetzt kam Pytlik in den Sinn, dass es etwas mit Gerda und vielleicht auch Franziska zu tun haben könnte. An den beiden Bodyguards vorbei folgte der Hauptkommissar dem Gastgeber hinauf, danach verschwanden beide im großen Badezimmer.

      Joseph Ferdinand Kaiser holte einen Briefumschlag aus der Tasche des Bademantels hervor und legte ihn auf einem der großen Waschbecken ab. Danach zog er den Mantel und anschließend die nassen Klamotten aus. Bisher hatte er nichts gesagt, und erst, als er mit einem großen Badetuch um die Hüften ins direkt anschließende Schlafzimmer hinüberging, erzählte er dem Hauptkommissar, was geschehen war.

      »Was ist mit deinem Arm passiert?«, wollte Pytlik aber zunächst wissen, als er am gut definierten rechten Oberarmmuskel eine Narbe fast schon in Art einer langen Delle sah.

      »Was?«

      Kaiser war von der seiner Meinung nach unwichtigen Frage irritiert. Ein kurzer Blick auf die besagte Stelle, dann ein lapidares Abwinken mit der Hand.

      »Unfall! Schon lange her! Unwichtig!«

      Pytlik wollte nicht weiter nachhaken; dann kam Kaiser zur Sache.

      »Ich werde erpresst! Anscheinend hat jemand meinen Vater entführt! Draußen an der Mauer steht in großen Buchstaben eine entsprechene Drohung. Mit Klebeband war außerdem noch der Umschlag befestigt worden, der dort liegt.«

      Während Kaiser sich rasch neue Kleider anzog, bedeutete er Pytlik mit einer Geste, den Brief zu holen und ihn sich anzuschauen.

      »Ich habe schon bei meinem Vater angerufen«, gab Kaiser dem Hauptkommissar bereits einen Hinweis, was auf dem DIN A4 Blatt als Botschaft in wenigen Zeilen verfasst war.

      »Niemand hebt ab! Sowohl meinen Vater als auch meine Mutter kann ich auf ihren Handys nicht erreichen. Was hältst du davon?«

      Pytlik saß auf dem Rand der Badewanne, den Teller hatte er neben sich abgestellt. Mit spitzen Fingern holte er das Papier aus dem Umschlag und las nun laut vor, so dass Kaiser es auch noch einmal hören konnte:

      »Die Zeit der Abrechnung ist gekommen! So einen Betrug hätte es im Kaiser-Reich nicht geben dürfen! Dein Vater will es nicht wieder gutmachen! Dafür wird er sterben! Deadline Mitternacht Firmengelände! Ich hoffe, du bist klüger! Keine Polizei!«

      Zum Glück und zu seiner eigenen Beruhigung lief dem Hauptkommissar Franziska noch über den Weg. Es war bereits zehn Minuten vor Mitternacht. Pytlik und Joseph Ferdinand Kaiser machten sich auf den Weg nach Pressig zum Firmengelände der Kaiser Bau GmbH.

      »Hör zu: Sprich mit den Leuten von der Security! Es sieht so aus, als ob JFK und sein Vater in Schwierigkeiten stecken. Kein Wort davon zu sonst irgendjemandem! Es wird wohl am besten sein, ihr versucht, die Party hier langsam und ohne großes Aufsehen aufzulösen.«

      Franziskas anfänglich ungläubiges Lächeln wich schnell einer ängstlichen und fragenden Miene. Sie kannte Pytlik bereits so gut, dass sie wusste, dass er es ernst meinte und Gefahr im Verzug war.

      »Aber, was ist denn…?«

      Pytlik packte sie so sanft wie möglich, aber mit Nachdruck an den Oberarmen. Er schaute ihr streng in die Augen.

      »Erzähle einfach, dem Seniorchef waren die Anstrengungen von heute zu viel. JFK kümmert sich um ihn! Etwas Besseres fällt mir im Moment nicht ein! Ich erkläre es dir später!«

      Er gab ihr einen Kuss und war im nächsten Augenblick verschwunden. Kaiser hatte das Haus bereits verlassen.

      ***

      Pytlik hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Die Situation war allem Anschein nach sehr ernst! Er hoffte, dass auf dem kurzen Weg nach Pressig nicht irgendwo eine Polizeikontrolle stattfand. Den Kollegen alles zu erklären, hätte mit einem angetrunkenen Joseph Ferdinand Kaiser auf dem Beifahrersitz sicherlich zur Eskalation in jeder Hinsicht geführt. Nach wenigen Minuten stoppte der Hauptkommissar seinen Wagen auf einem großen Platz inmitten des riesigen Firmengeländes, das unbeleuchtet war.

      »Und jetzt?«, wollte Kaiser mehr von sich selbst als von Pytlik wissen. Es schien, als spräche er mit dem Unbekannten über einen Kopfhörer im Ohr. Der Hauptkommissar ließ den Motor laufen und war hochkonzentriert.

      »Keine Ahnung!«, antwortete er und steuerte das Auto mit schleifender Kupplung weiter ins Werk hinein. Die digitale Uhr im Cockpit des Dienstwagens zeigte noch zwei Minuten bis Mitternacht.