»Ich habe meine Schulaufgaben noch nicht gemacht, Vater.«
»Dann mach’ sie jetzt, wir beide sprechen uns nachher wieder.«
Mit einem Seufzer entfernte sich Herr Wagner. Er kannte seinen wilden Joachim. Schon manche Beschwerden aus der Nachbarschaft waren über den Knaben eingelaufen, aber seine Strenge nützte wenig. Die Gattin des Apothekenbesitzers behandelte ihren ältesten Sohn mit liebevoller Nachsicht, sie wagte nicht, ihre ganze Energie ihm gegenüber zu entfalten, denn Joachim war ihr Stiefsohn. Der Apothekenbesitzer hatte seine erste Gattin schon nach kurzer Ehe verloren und hatte sich gezwungen gesehen, dem vierjährigen Joachim eine neue Mutter zu geben. Frau Wagner besaß ein liebevolles Herz und nahm sich des verwaisten Knaben mit rührender Liebe und Zärtlichkeit an. Sie war eifrig bemüht, ihm die gleiche Mutterliebe zu schenken, die Bärbel genoß, hütete sich aber vor größerer Strenge.
Schuhmacher Halbe, der unten in der Apotheke unruhig auf und ab ging, machte ein bitterböses Gesicht. Das ging nun doch zu weit, daß der Apothekerrange ihm einfach die Fensterscheiben einwarf und sich obendrein noch frech betrug. Schuld an allem hatte freilich der Emil Peiske, der seinen Spielgefährten stets zu tollen Streichen veranlaßte. Eine Fensterscheibe hatte man ihm eingeworfen, und als er darüber gescholten hatte, waren die beiden Bengel obendrein noch frech geworden; Peiske hatte sogar dem Meister die Zunge herausgestreckt und ihn schließlich mit Wasser zu begießen versucht. Das konnte er sich nicht gefallen lassen. Er wußte, daß Herr Wagner seinen Jungen streng hielt, nun mochte von dieser Seite das Strafgericht über den wilden Joachim hereinbrechen.
Für Herrn Wagner war dieser Bericht nichts Neues. Er hatte schon manche Fensterscheibe bezahlen müssen, und Joachim hatte so manche Tracht Prügel dafür erhalten. Die Angelegenheit würde sich heute in der gleichen Weise abwickeln. Hoffentlich sorgte die Großmutter dafür, daß der jetzt so wenig beaufsichtigte Joachim wieder in strengere Zucht kam.
Nachdem Joachim seine Strafe erhalten hatte, begab sich Herr Wagner zu seinem Töchterchen, das im Bett saß und mit einer Puppe spielte.
Erfreut streckte Bärbel dem Vater beide Arme entgegen: »Ist gut, daß du endlich kommst, Vati, Bärbel ist grenzenlos verlassen!«
»Na, na«, beschwichtigte er, »Lina ist doch sicher bei dir gewesen.«
»Nun ja, aber sie ist gleich wieder fortgegangen.«
Herr Wagner wies auf das Butterbrötchen, das noch unberührt auf dem Nachttischchen stand.
»Warum hast du denn nicht gegessen, Bärbel? Wenn du gesund werden willst, mußt du essen. Wenn du das Brötchen aufißt, wirst du so groß wie Vati.«
Wieder trat der nachdenkliche Zug auf das Gesicht des Kindes.
»Von dem kleinen Brötchen werde ich so groß wie du?«
»Von vielen Brötchen.«
»Weißt du, Vati, dann gib mir lieber viele Schinkenstullen, mit viel Schinken und Butter darauf, aber ohne Brot.«
»Jetzt iß dein Brötchen, dann mache ich dir eine große Freude.«
»Nein, nein«, rief sie heftig, »ich will nicht noch einmal ein Zwilling, wir haben genug, Vati!«
Herr Wagner lächelte. »Ich habe eine viel schönere Überraschung für dich. – Heute abend kommt Besuch, und zwar die liebe Großmama aus Dresden.«
»Ooch!«
»Nicht wahr, das ist eine große Freude? Nun aber mußt du auch dein Brötchen essen.«
»Die Großmama«, wiederholte Bärbel, und alle Freude ihres Kinderherzens zitterte durch diese Worte.
»Nun iß brav.«
Bärbel biß gehorsam in das Brötchen, dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich kann nicht, Vati, mein Bauch ist ganz voll Freude, da ist kein Platz mehr für das Brötchen.«
»Die Freude läßt sich ein wenig zusammendrücken, Bärbel.«
Sie faltete die kleinen Händchen über dem Leib. »Nein, Vati, die Freude ist überall, in jeder Ecke. – O, der Bauch ist ganz dick und voll! Kommt die Mutti heute auch wieder zu Bärbel?«
»Nein, Bärbel, die Mutti ist noch sehr krank, und der Onkel Professor meint, sie muß noch viele Tage im Bett bleiben.«
»Ja, – wenn es der Onkel Provisor meint, muß sie wohl im Bett bleiben. – Wann kommt die Großmama?«
»Heute abend, mein Kind.«
»Weiß du, Väterchen, warum die Mutti so krank ist? Die kleinen Lausebengel haben zu sehr geschrien.«
»Aber Bärbel!«
»Freilich, Bärbel hat sie gehört, und darum ist Bärbel auch krank geworden.«
»Nicht doch, Bärbel, die Brüderchen machen der Mutti viel Freude. Weißt du denn auch schon, was die Brüderchen für Namen haben?«
»Hektor und Mieze!«
»Das geht nicht, das sind doch keine Namen für kleine Jungen. Der eine heißt Martin und der andere Kuno.«
Bärbel verzog das Gesicht. »Wenn er Mieze geheißen hätte, hätte ich ihn viel lieber gehabt. Ist er immer noch barfuß auf dem Kopfe?«
»Warte es nur ab, Bärbel, – bald werden dir die Brüderchen so viele Freude machen, daß du gern mit ihnen spielen wirst. Ich schicke jetzt den Joachim her, der soll dir ein Märchen vorlesen.«
»Ach ja, von Rotkäppchen, wie der Wolf den Schlafanzug seiner Großmama anzog.«
»Ich werde Joachim sagen, daß er dir ein ganzes Märchen vorlesen soll, und daß er nicht eher fortlaufen darf.«
Mit wenig freundlichem Gesicht trat zehn Minuten später Joachim ins Zimmer, ein Buch unter dem Arm.
Bärbel blickte ihn verklärt an.
»Du, – lies vom Rotkäppchen und dem Wolf.«
»Das ist ja Quatsch!«
»Vom Schneewittchen.«
»Stuß!«
»Was willst du denn dann vorlesen?« fragte Bärbel argwöhnisch.
»Wart’ es doch ab!«
Damit setzte sich der Knabe ans Fenster, schlug das mitgebrachte Buch auf und fing mitten aus einer Indianergeschichte an, der kleinen Schwester vorzulesen. Es war doch ganz einerlei, was die dumme Göhre hörte.
Bärbel unterbrach ihn sehr bald. »Das ist nicht schön, – Bärbel will von Rotkäppchen und dem Wolf.«
Joachim ließ sich nicht beirren. Er las weiter, und als er abermals unterbrochen wurde, meinte er patzig: »Wenn du jetzt nicht stille bist, lese ich dir gar nichts vor.«
»Du bist auch ein Lausebengel«, sagte Bärbel seufzend, legte sich in die Kissen zurück und unterhielt sich mit ihrer Puppe.
Kurze Zeit darauf ertönte vor dem Fenster ein langgezogener, schriller Pfiff. Joachim schaute hinaus, klappte das Buch zu und stürmte zur Tür hinaus, denn unten stand sein bester Freund Emil. Er hatte zwar das eine Auge verbunden, doch sehnte er sich bereits wieder nach seinem Spielgefährten.
Kurz vor dem Abendessen kam Lina, die im Kinderzimmer rasch noch etwas Ordnung machte.
»Die Großmutti wird gleich hier sein, Bärbel.«
»Das ist keine Großmutti, das ist eine Großmama«, verbesserte das Kind. »Ob sie Bärbel etwas mitbringt?«
»Das macht sie doch immer, Goldköpfchen! Wenn du artig bist, bekommst du gewiß etwas sehr Schönes.«
»Dann sage nur der Großmama, wo ich jetzt wohne, damit sie mich findet. – Kommt sie bald?«
Lina