»Vati freut sich heute sehr, kleine Bärbel, denn Vati hat etwas Wunderschönes geschenkt bekommen.«
»Bärbel ist artig gewesen und möchte auch etwas geschenkt bekommen. – Hat die Lina die Maikäfer gebracht?«
»Lina nicht, aber der Himmel hat zwei hübsche Maikäfer in Muttis Bett gelegt.«
»O«, jauchzte das Kind, »die krabbeln so doll!«
»Jetzt höre einmal ganz brav zu, Bärbelchen. Du hast dir doch gestern ein Brüderchen gewünscht.«
»Ein Ziegenböckchen«, beharrte das Kind.
»Nein, einen kleinen Spielgefährten.«
»Bärbel will ein Schwesterchen haben.«
»Die gute Mutti hat aber gemeint, es ist viel netter, wenn du statt einem Schwesterchen zwei Brüderchen bekommst.«
»Zwei?« fragte Bärbel und zog die Lippe hoch.
»Zwei niedliche Brüderchen. Du darfst sie dir nachher ansehen.«
In Bärbels Augen kam ein nachdenklicher Ausdruck. Die große Kiste stand wieder vor ihren Augen. Jetzt schien sie es ergründet zu haben, daß ein Söhnlein zwei Brüderchen waren.
»Ich hab’s gewußt, Vati«, sagte sie. »Ich habe die Kiste mit dem Söhnlein gesehen.«
»Das ist kein Söhnlein, mein liebes Kind, das sind Zwillinge.«
Wieder maßloses Staunen; dann erklärte Bärbel, es wolle die Zwillinge sehen.
»Laß dich von Lina ankleiden, dann darfst du zur Mutti kommen.«
Das Ankleiden war heute nicht ganz leicht. Das kleine Mädchen zappelte vor Ungeduld und wollte von Lina wissen, wie ein Zwilling aussähe. Ihre Gedanken rankten sich um den Zwieback, den es an jedem Morgen aß, und Lina hatte Mühe, den Unterschied von Zwieback und Zwillingen dem Kinde klarzumachen.
Aber endlich war dieses schwierige Werk doch gelungen, Bärbel durfte, von Lina geführt, nach dem Schlafzimmer der Eltern gehen.
Der Vater kam dem kleinen Mädchen entgegen, nahm es an der Hand und wollte es zu dem rosa gefütterten Körbchen führen; aber Bärbel eilte auf die Mutter zu und sagte lachend:
»O, die Mutti schläft heute so lange, heute ist Bärbel eher aufgestanden!«
Dann fielen ihr wieder die Maikäfer ein. »Wo sind denn die Maikäfer, die in deinem Bette krabbeln?«
»Schau’ einmal dorthin, Goldköpfchen«, sagte Frau Wagner.
Voller Staunen schaute Goldköpfchen auf die beiden schlafenden Bübchen, von denen das eine tiefschwarzes Haar hatte, während das andere kahlköpfig war.
Ganz still war es für einige Augenblicke im Zimmer; dann kam ein tiefer Atemzug aus Bärbels Brust. Der kleine Finger wies scheu auf die Brüder.
»Sind das die Zwilling?«
»Jawohl, mein Kind.«
»Und mit so was soll Bärbel spielen?« klang es entrüstet.
»Erst müssen sie schlafen, Bärbel, dann werden sie größer und immer größer, und schließlich wirst du die Brüderchen sehr liebhaben.«
Bärbel schüttelte den Kopf.
»Warum denn nicht?« fragte der Vater.
»Den da, vielleicht«, meinte Bärbel, indem sie auf den behaarten zeigte, »aber das da ist barfuß auf dem Kopfe.«
»Pass’ nur auf, wenn sie munter sind und mit Händen und Füßen zappeln, das ist sehr niedlich.«
Ein ganzes Weilchen stand das Kind vor den schlafenden Brüdern; dann kehrte es wieder ans Bett der Mutter zurück.
»Mutti?«
»Nun, mein Liebling?«
»Wenn Bärbel sehr lieb ist, darf sich Bärbel dann etwas wünschen?«
»Sprich, Bärbel, was möchtest du haben?«
Über die Schulter weg schaute Bärbel auf die Zwillinge. »Pack’ sie wieder ein, Mutti. Zwei will ich nicht. Ich will nur ein Schwesterchen. Tausche sie wieder um!«
»Freust du dich denn gar nicht über die beiden Brüderchen?«
»Das sind keine lieben Brüderchen, mit denen kann Bärbel nicht spielen, das sind Söhnlein.«
»Mutti freut sich aber sehr über die Zwillinge.«
Bärbel wurde nachdenklich. »Ich möchte ein großes Schwesterchen, aber keinen Zwilling.«
Herr Wagner legte die Hand auf die goldenen Locken seines Kindes. »Du mußt jetzt recht brav sein, mein liebes Kind, denn Mutti wird traurig, wenn du unzufrieden bist. Denke nur, wie hübsch wird es sein, wenn du zwei Brüderchen hast, mit denen du durch den Garten läufst. Joachim ist doch zu groß für dich. Du mußt dem lieben Gott sehr danken, daß du zwei so niedliche Brüderchen bekommen hast.«
»Kann man ihnen denn nicht die Augen aufmachen, Vati?«
»Jetzt schlafen sie. Wenn deine Puppe schläft, hat sie doch auch die Augen geschlossen.«
»Dann nimmt sie Bärbel hoch. – Mach’ das doch auch, Vati.«
»Nein, mein kleines Mädchen. Deine Brüderchen müssen ganz ruhig schlafen.«
»Sie sind faul«, sagte Bärbel mit ehrlicher Entrüstung. »Jetzt braucht man nicht mehr zu schlafen.«
»Als du so klein warst, hast du auch viel geschlafen«, meinte der Vater. »Kleine Kinder müssen immer schlafen. Du warst nämlich auch einmal genau solch ein winziges Ding.«
Wieder schaute Bärbel nachdenklich auf die Säuglinge. »War Bärbel auch eine Zwilling?«
»Nein.«
»Warum sind das zwei?«
»Das hat der Himmel so eingerichtet.«
»Dann hat der Himmel aus zweien das Bärbel gemacht? Ja?«
»Jetzt laß die Mutti schlafen, Bärbel, Mutti braucht Ruhe, und die Brüderchen auch.«
»Wenn ich wiederkomme, hast du auch aus den zweien eins gemacht, Vati? – Bitte, mach’ doch ein niedliches Schwesterchen.«
»Jedes andere Kind freut sich, wenn es viele Brüder und Schwestern hat, nur du bist unzufrieden, Bärbel. – Geh jetzt zu Lina und laß Mutti schlafen.«
Bärbel eilte nochmals ans Bett der Mutter und umschlang sie.
»Ist Bärbel unartig, Mutti?«
»Vati ist traurig, weil du dich nicht über die Brüderchen freust.«
»Hätt’ ich nur ein Ziegenböckchen bekommen, Mutti. – Wenn die Brüderchen nicht einmal die Augen aufmachen, kann Bärbel sich nicht freuen.«
Lina und Wanda hatten eine noch schwerere Aufgabe, denn Bärbel stellte hundert Fragen, die nicht beantwortet werden konnten. Sie begriff es nicht, warum dort oben gleich zwei Brüderchen waren, und warum sie selbst kein Zwilling war.
»Vielleicht hat die Mutti eins fortgeworfen, vielleicht wirft sie auch ein Brüderchen fort.«
Nur der Hausdiener Felix vermochte dieses Welträtsel zu lösen.
»Der Vati wollte eben noch viele Apotheker haben. Ein Junge war ihm zu wenig, da hat er ihn zerschnitten, und nun sind zwei da.«
»Zerschneidet man immer kleine Kinder?«
»Nicht immer.«
»Bärbel hat er nicht zerschnitten?«
»Nein, – er wollte nur ein Mädchen haben.«
»Will man immer zwei Jungen?«
»Natürlich.«